Zwischen Sowjetmacht, Showgeschäft und Sendungsauftrag –
Wie zwei (post-) sowjetische Künstler ihre Stimme für Karabach erhoben


von Matthias Wolf

Die Situation, dass Vertreter jeglicher Kunstrichtungen sich auch in politischen Fragen zu Wort melden, ist heutzutage durchaus zu einer Normalität geworden. Dies geschieht in der Regel in zweierlei Manier: Entweder engagieren sich Sänger, Schriftsteller oder auch bildende Künstler in eigener Sache und geben so eine Art Trend vor, dem zu folgen sich auch auf einer Ebene außerhalb der jeweiligen Kunstrichtung lohnt, oder sie werden von außen her gebeten, mit einem Anliegen (meist politischer Natur) an die Öffentlichkeit heran zu treten, um einem gesellschaftlichen Ziel, das aus Regierungskreisen heraus gesetzt wurde, Popularität und Nachdruck zu verleihen. Dabei ist der Beliebtheits- und/oder Bekanntheitsgrad eines kreativen Geistes entscheidend darüber, ob mit ihm auch das eigentliche Ziel auf eine höhere Bedeutungsebene angehoben wird. Denn nicht selten sind ja Menschen, die in der Kunst, im Showgeschäft oder im Sport ihr Können in herausragender Weise demonstrieren, auch Vorbilder für große Teile ihres Publikums.

Das Alter   der Fans spielt dabei  nicht unbedingt eine Rolle, da ja nicht nur Kinder oder Heranwachsende unter Umständen Vorbilder für eine bestimmte Lebenseinstellung haben.
Auch ältere Menschen können sich Vorbilder gesucht und diesen nachgeeifert haben, sofern bestimmte Charakterzüge, Schlüsselerlebnisse oder gemeinsame historische Erfahrungen diese Auswahl eines Idols begründen. In manchen Fällen kann eine solche Vorbildwirkung aber auch generationsübergreifend sein oder zwischen den jeweiligen Altersgruppen zu Meinungsverschiedenheiten führen, wenn etwa die Lebenswelten auf beiden Seiten anders gestaltet oder die historisch relevanten Ereignisse unter den Fans verschieden sind.

So verhält es sich auch im Falle des bewaffneten Konfliktes zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region (Berg-) Karabach. Denn auch hier haben Menschen verschiedener Altersstufen und Herkunft unterschiedliche prägende Erfahrungen gesammelt, die bis heute ihre Sicht auf die Dinge beeinflussen.
Im Falle zweier bedeutender Künstler, die als Sänger, Regisseure und Schauspieler auf eine große Karriere zurückblicken können und sich dabei durchaus auch politisch zu äußern hatten, ist dies keineswegs anders. Die Rede ist von Muslim (Magomet oglu) Magomaev und Polad Bülbül oglu, deren musikalisches Werk und politische Aktivität hier zueinander in Beziehung gesetzt und bewertet werden sollen.
Dabei soll besonders auf die Frage eingegangen werden, inwiefern das Publikum in Aserbaidschan diese beiden Künstler einerseits als einen wichtigen Teil seines kulturellen Erbes wahrnimmt, sie aber andererseits aus politischen Gründen äußerst kritisch zu beurteilen geneigt ist.

Um tatsächlich eine Bewertung des politischen und künstlerischen Schaffens der beiden Prominenten vornehmen zu können, ist es notwendig, kurz die Ausganssituation zu schildern, aus der heraus beide ihre Karriere begonnen haben. Beide Sänger wurden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs geboren und erhielten damit später sowohl eine Schulbildung, als auch eine klassische musikalische Ausbildung nach sowjetischen Maßstäben. Dies ist insofern wichtig zu bemerken, als dass es natürlich auch die Weltanschauung beider Künstler nachhaltig prägte und besonders das Verhältnis zum Thema Heimat charakterisiert.
Natürlich waren beide Bürger der damaligen Aserbaidschanischen SSR, natürlich sprachen sie beide Verkehrssprachen (Muslim Magomaev sprach nur selten Aserbaidschanisch) und selbstverständlich
waren beide, ihrem Empfinden nach sowohl „Aserbaidschaner“, als auch „Bürger der Sowjetunion“.
Auch ihr Verhältnis zu Russland war entsprechend positiv und beide Künstler wurden schließlich im Laufe ihres Lebens über die Grenzen Aserbaidschans hinaus bekannt. Soweit lassen sich hier durchaus Gemeinsamkeiten feststellen, die zunächst nur mittelbar mit dem politischen Wirken zu tun haben, das im Falle von Muslim Magomaev recht früh begann, jedoch in Bezug auf Polad Bülbüloglu erst viel später zu Tage trat und sogar bis heute Nachwirkungen auf die Kulturszene und die politische Entwicklung Aserbaidschans hat.

Muslim Magomaev begann seine Karriere nämlich zunächst als klassischer Bariton in der Opernszene , wechselte später zur Unterhaltungsmusik und interpretierte durchaus auch internationale Titel,
die zumeist in der UDSSR und den Staaten des Warschauer Paktes nur wenig bekannt, dafür aber (ob dem Qualitätsmerkmal, „westlich“ zu sein) sehr beliebt waren. In den 1970er und 1980er Jahren kam es außerdem öfter zu Auftritten, bei denen politische Musik im Geiste des Sozialismus und der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielte.

Auch der Patriotismus gegenüber der Sowjetunion allgemein und Aserbaidschan im Speziellen
kam dabei zum Tragen. So zählen Lieder, wie z.B. „Ey, ziz anam, Azerbaycan“ ( Aserbaidschanisch: „Oh, liebe Mutter Aserbaidschan“) oder „Noviy Djen’“ (Russisch: Neuer Tag) zu jenen Werken Magomaevs, die sowohl Heimatverbundenheit zu Aserbaidschan, als auch zur Sowjetunion als Ganzes ausdrücken.
Auch die russische Hauptstadt Moskau selbst, in der Muslim Magomaev viele Jahre seines Lebens zugebracht hat, nimmt einen wichtigen Patz in seinem Werk ein. So entstand z.B. das Lied „Lutshshiy Gorod Zemly“ (Russisch: „Beste Stadt der Welt“), in dem Moskau sowohl für seine Schönheit besungen, als auch dem geneigten potentiellen Besucher zum Besichtigen und Verweilen empfohlen wird.

Insgesamt bleibt nun festzustellen, dass Muslim Magomaev eher für klassische Werke wie Liebeslieder, Interpretationen fremdsprachiger westlicher Musik und die beiden o.g. Songs

bekannt geworden ist. Die politische Dimension seines kulturellen Schaffens wird heutzutage weitgehend ausgeklammert. Vor allem die jüngere Generation in Aserbaidschan tut dies. Allerdings geschieht dies vermutlich eher aus Unwissenheit denn aus wirklicher ideologischer Bewusstheit.
Für die älteren Fans bedeutet das Hören seiner Lieder oftmals vor allem eine Wiederbelebung der Erinnerung an vergangene Zeiten. Hierbei können unterschiedliche Assoziationen von Bedeutung sein:
Für den einen eine Jugendliebe, der man  vielleicht Veilchen zum Abschied geschenkt hat (siehe hierzu das Lied „Fialki“, Russisch: Veilchen), für den anderen aber möglicherweise auch die Erinnerung an eine sorglosere Zeit, in der Arbeit, Familie und soziales Leben weit weniger unschwierige Lebensbereiche darstellten, als dies in den (heute unabhängigen) Nachfolgestaaten

der ehemaligen UDSSR der Fall ist.

Das politische und musikalische Schaffen von Polad Bülbül oglu muss, schon von seinem Verlauf her, etwas anders charakterisiert werden. Hier nämlich ist die politische Dimension, zumindest zu Anfang, bestenfalls implizit erkennbar. Dies bedeutet, dass nur diejenigen seinen Liedern einen politischen Gehalt  zumessen mögen, die ebendiesen zu erkennen glauben. In den Liedern selbst ist nämlich nicht immer eine Weltanschauung tatsächlich manifestiert, sondern eher ein Gefühl, das die Suche nach der passenden Frau, einer besseren Zukunft oder ebenfalls die Liebe zu Heimat, Natur und dem Leben allgemein zu beinhalten scheint. Ein politisches Element erkennt man also nur dann, wenn man genauer hinsieht, hinhört und die Texte einer eingehenderen Interpretation unterzieht.
Als ein Beispiel ist hier das Lied „Gel, ey seher“ (Aserbaidschanisch: „Komm, oh Morgen“) zu nennen. Dieses Lied scheint, seiner äußeren Aussage nach, einen Sonnenaufgang zu beschreiben.
Dieser  taucht dann die Welt in ein neues Licht, das alles wieder neu erleuchtet und dem Betrachter als etwas neu Gewachsenes vor Augen stellt. Doch genau diesem Bild wohnt bereits, wenn man so möchte, eine politische Komponente inne. Denn der Sonnenaufgang als Metapher für die Wiedergeburt einer neuen (mutmaßlich besseren) Welt war auch ein gängiges Bild im Sozialismus und wurde in den politischen Liedern der Sowjetunion (egal, in welcher Sprache) oft verwendet. Heutzutage ist „Gel, ey seher“ allerdings auch zu einem Volkslied geworden, dessen Melodie und Text generationsübergreifend bekannt sind.

Ein anderes Beispiel für ein Werk von Polad Bülbül oglu, das als weitaus politischer betrachtet und auch heutzutage noch bei entsprechenden Anlässen in verschiedenen Varianten aufgeführt wird, ist das Lied
„Şen Azerbaycan“ (Glückliches Aserbaidschan). Es entstand Ende der 1960er Jahre, zu einer Zeit also,
als Polad Bülbül oglu selbst noch recht jung war, jedoch als Sänger und Schauspieler schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Umstand hinzuweisen, dass dieses Lied nicht von der sowjetischen Führung in Moskau als „nationalistisch“ eingestuft und verboten wurde, sondern im Radio oder Abendfernsehen sowjet-aserbaidschanischer Haushalte oft zu hören war. Dies ist umso logischer nachzuvollziehen, als neben der aserbaidschanischen auch eine russische Variante existierte, die (wie der Originaltext auch) die Schönheit von Städten, Liedern und der Natur Aserbaidschans zum Inhalt hatte. Auch für das oben beschriebene Lied „Gel, ey seher“ gab es eine solche russische Version. Diese trägt den Titel „Tvoya doroga“ (Russisch: „Dein Weg“) und beschreibt kein Naturschauspiel, sondern vielmehr die Idee, dass der Mensch im Leben oftmals seinen eigenen Weg gehen möchte, ihn aber, ob verschiedener Probleme, nicht sofort vor sich zu erblicken vermag. Insofern hat also auch dieser Text
eine eher philosophische Komponente. Doch auch dies kann man  mit der sozialistischen bzw. dialektischen Denkart erklären, die hinter jeder Wirkung nach der Ursache sucht und auf diese Art und Weise auch für gesellschaftliche Probleme Erklärungen und Lösungsansätze zu finden bestrebt ist.

Als eine letzte Betrachtungsdimension möchte ich das öffentliche Auftreten beider Künstler außerhalb eines musikalischen Kontextes anführen. Beide Anlässe hängen, wie eingangs erwähnt, mit dem Karabach-Konflikt zusammen und belegen, dass beide Künstler auf keinen Fall unpolitisch waren und dies weder zu Zeiten der Sowjetunion, noch danach von sich auch nur behauptet hätten. So sagte etwa Muslim Magomaev einem russischen Journalisten auf die Frage, wie er den Karabach-Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien bewerte, sinngemäß: „Lieber Freund, Ihre Frage ist mir unverständlich, da Karabach schon immer zu Aserbaidschan gehört hat.“ Diese Aussage ist insofern gut nachvollziehbar, als Muslim Magomaev Zeit seines Lebens nie eine andere Realität, als die von ihm beschriebene gekannt hat. Trotz seiner Affinität zu Russland war er dennoch Aserbaidschaner und hatte auch die bewaffneten Angriffe Armeniens wohl zuerst mit Erstaunen, dann mit Unverständnis wahrgenommen.


Polad Bülbül oglu, der nach 1991 unter der Regierung Heydar Aliyevs Kulturminister Aserbaidschans war und heute als Botschafter seines Landes in Russland tätig ist, wurde bei einem Treffen mit seinem armenischen Amtskollegen während eines beidseitigen Interviews im russischen Fernsehen zu den Kriegshandlungen gegen das armenische Militär im Jahr 2020 noch deutlicher.
Er sagte zu diesem Thema: „In meinen Augen hat Aserbaidschan nichts Unrechtes getan. Wir führen hier keinen Angriffskrieg gegen Armenien, sondern schützen nur ein Gebiet, das bereits Teil Aserbaidschans ist.“ Objektiv hatte er damit zweifelsohne Recht, da die fraglichen Gebiete tatsächlich de facto und de iure zum Territoriums Aserbaidschans zählen.

Dennoch hatten viele (vor allem jüngere) Zuschauer und Kommentatoren ihren Unmut darüber geäußert, dass ausgerechnet Polad Bülbül oglu diese Äußerung tat. Grund dafür waren seine Verbindung und eine offenbare Sympathie für Russland und die Art, in der er ihrer Meinung nach Aserbaidschan in den russischen Medien vertrat. Es erschien so, als sei der mittlerweile 79-jährige Sänger für die Jugendlichen nicht mehr das Sinnbild des heutigen unabhängigen Aserbaidschans, sondern eher des sowjetischen Vorgängerstaates,
der sich seinerzeit noch um freundschaftliche Töne Russland gegenüber zu bemühen hatte. In diesem Zusammenhang wurde auch an manchen Stellen die Tatsache moniert, dass Polad Bülbül oglu im Interview Russisch sprach, statt sich des Aserbaidschanischen zu bedienen. Dazu ist allerdings zu sagen, dass auch der Botschafter Armeniens des Russischen mächtig war und von seiner Sprachkompetenz im Interview Gebrauch machte. Doch zeigt diese Tatsache wiederum, dass beide Repräsentanten, aufgrund des gemeinsamen sowjetischen Erbes zumindest keine sprachliche Barriere zu überwinden hatten. Abschließend zu diesem Thema ist festzustellen, dass beide Künstler grundsätzlich zum kulturellen Erbe Aserbaidschans und der UDSSR gehören, dabei jedoch durch das Publikum politisch unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Während Muslim Magomaev über alle Generationen hinweg eher  als ein berühmter und geachteter Unterhaltungskünstler mit Symbolkraft für die Stärke und Weltoffenheit Aserbaidschans gilt, wird Polad Bülbül oglu, vor allem seines heutigen politischen Amtes wegen, eher zwiespältig eingeschätzt. Er steht sowohl für ein sehr großes künstlerisches Potenzial Aserbaidschans insgesamt, als auch für eine bisher nur unvollständig erlangte Unabhängigkeit von Russland.
Diese wird einerseits im weiteren Gebrauch des Russischen während seiner Auftritte, andererseits aber
auch in einem vermeintlich zu höflichen Verhalten in politischen Debatten gesehen.
Mochte er im Falle Karabachs auch deutliche Worte gefunden haben, um Armeniens militärische Präsenz  zu verurteilen, so schien er doch vielen jüngeren Zuhörern in seiner Eigenschaft als Botschafter fehl am Platz. Dies kann jedoch durchaus in einer einfachen Tatsache begründet liegen, die vielen „Kindern der Unabhängigkeit“ wohl  schwerer zu schaffen macht, als diese es offen zugeben würden:
Nämlich in der Idee, dass die Aufarbeitung eines gemeinsamen sowjetischen Erbes die Basis für eine politische Zusammenarbeit und für eine (noch ausstehende) Versöhnung beider Länder bilden kann.