von Matthias Wolf
Immer wieder haben Menschen eine Vorliebe für Systeme und Klassifizierungen jeglicher Art. Dies stellte schon Dostojewski in seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ fest, wo ein pensionierter Beamter über die Höhen und Tiefen seines Lebens und über die Schwierigkeiten des Menschen auf Erden, sich selbst zu finden, ausführlich mit sich selbst debattiert. Genau diese Systeme und Versuche der Anordnung von Dingen sind es aber, die uns erleichtern, etwas zu lernen (und zu behalten) oder aber etwas strukturiert zu beschreiben. Vor allem in der Wissenschaft sind Klassifizierungen immer hilfreich und notwendig. Niemand würde sie in Frage stellen, eben weil sie das zuweilen unübersichtliche Feld an Phänomenen, Termini und Methoden soweit vereinfachen, dass ein Zugang zu den verschiedensten Wissensbereichen ermöglicht wird. Genauso verhält es sich auch mit Völkern, Sprachen und Kulturen, die mittlerweile so gut erforscht sind, dass Systeme geschaffen werden konnten, die eine Anordnung in verschiedene Kategorien (außerhalb der geografischen Lage) ermöglichen. Dennoch, so muss man bei genauerer Betrachtung einräumen, sind auch diese Systeme zur ethnologischen oder linguistischen Arbeit nur ein Behelf, der nicht alle Dimensionen einer bestimmten Volksgruppe oder deren Lebensweise in allen Einzelheiten widerspiegeln kann. Dies ist natürlich auch nicht immer Sinn und Zweck eines solchen Systems, da Wissenschaft ja stets selektiv verfahren muss, will sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Schwierig jedoch wird es, wenn Kategorisierungen dazu führen, dass Fehlschlüsse gezogen oder Verallgemeinerungen getroffen werden, die nicht wahr sind oder, wie eben im Bereich der interkulturellen Forschung, unter Umständen Vorurteilen einen Nährboden bereiten.
Im Falle der Turkvölker Zentralasiens, die mittlerweile in unabhängigen Staaten mit- und nebeneinander leben, ist dies ganz ähnlich. Denn allein schon die Bezeichnung „Turkvölker“ verleitet viele Menschen dazu, sie mit jenen Türken gleichzusetzen, die heute auf dem Gebiet der Türkei leben. Doch dieser Vergleich ist an vielen Stellen fehlerhaft oder gar unangemessen, wenn man bedenkt, dass sich der Lebensstil in den jeweiligen Ländern, das politische System und damit auch die gesellschaftlichen Normen in den beiden Kulturräumen wesentlich voneinander unterscheiden. Der folgende Aufsatz stellt einen Versuch dar, einen Überblick über verschiedene Turkvölker zu geben und dabei auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ansatz heraus zu arbeiten. Wesentliches Ziel dieser Betrachtungen soll es außerdem sein, der Frage nachzugehen, weshalb die hier betrachteten Turkvölker bzw. ihre Staaten nicht unbedingt mit der heutigen Türkei vergleichbar sind.
a) Türkei – Vom Osmanischen Reich zum Kemalismus – und wieder zurück?
Will man verstehen, was eigentlich die Turkvölker Zentralasiens von den Türken in der Türkei unterscheidet, so muss erst einmal eine Charakterisierung dieses ersteren Landes bezüglich seines kulturellen Erbes, seiner politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und seines Selbst- und Fremdbildes vorgenommen werden. Denn nur so erhält man eine Idee davon, was eigentlich damit gemeint ist, wenn man von der Türkei als Land, als Siedlungsgebiet oder als politischem System spricht. Erst dann ist es möglich, die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf die anderen Turkstaaten und deren Bewohner anzuwenden und die Ergebnisse zueinander in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise ergibt sich schlussendlich eine Gegenüberstellung, die sowohl Gemeinsamkeiten, als auch Unterschiede deutlich macht.
Die Türkei selbst existiert als Republik (Türk Cumhuriyeti) in ihren heutigen Grenzen erst seit 1923. Zuvor war dieses Gebiet Teil des Osmanischen Reiches gewesen, eines Imperiums, das sich vom Balkan bis nach Nordafrika erstreckte und verschiedene Völker, Sprachen und Kulturen beherbergte. Die Amtssprache, das Osmanische, war nur bedingt mit dem heutigen Standardtürkisch (Öz Türkçesi) vergleichbar. Dies zum einen deshalb, weil es in arabischen Zeichen statt in lateinischen Buchstaben geschrieben wurde, zum anderen aufgrund des weit archaischeren Wortschatzes aus arabischen und persischen Lexemen, die heute nicht mehr oder nur noch in ganz speziellen Kontexten verwendet werden.
Der Geistlichkeit wie der Religion (namentlich dem Islam sunnitischer Prägung) kam auch eine politische Macht zu.
Es herrschte die Scharia, wodurch der Staat auf Grundlage der Religion legitimiert wurde. Dieser Kulturzustand hielt bis 1923, genauer gesagt bis zur Machtübernahme von Mustafa Kemal Paşa (Atatürk), an. Seine Politik brachte zahlreiche Neuerungen, die den Alltag der Bewohner des Vielvölkerstaates merklich erschütterten.
Zunächst wurde das arabische Zeichensystem durch das lateinische Alphabet ersetzt. Diese Maßnahme mag logisch erscheinen, zumal sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht dabei half, die türkischen Laute eindeutiger und passender abzubilden, als dies arabische Zeichen getan hätten. Die Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung wurde dadurch vereinfacht und ein Schulwesen, orientiert an französischen Standards,das Jungen und Mädchen gleichermaßen zugänglich war, konnte implementiert werden. Trotz alledem darf eines dabei jedoch nicht vergessen werden: Die Umsstellung des Alphabets stellte einen Bruch mit der muslimisch-arabischen Welt dar, zu der der Vielvölkerstaat „Osmanisches Reich“ jahrhundertelang gehört hatte. Auch veränderte sich die Sicht auf den Bürger der jungen „Republik Türkei“ maßgeblich.
Denn, wie schon erwähnt, war das Osmanische Reich ein Vielvölkerstaat mit verschiedenen Ethnien, Sprachen und Religionen gewesen. Zwar gab es eine offizielle osmanische Amtssprache, doch wurde diese bei weitem nicht von allen Bewohnern des Reiches beherrscht. Sprachen wie Persisch, Armenisch oder Kurdisch waren übliche Mittel der Kommunikation. Osmanisch wurde fast nur von der Oberschicht gesprochen oder in offiziellen Dokumenten verwendet.
In der Folge galten alle Bürger, ungeachtet ihres Status („Bürger des Reiches“), weiterhin als Armenier, Kurden, Lazen oder Türken. Dies sagte jedoch nichts über ihren rechtlichen Status aus. Dieser wurde durch die Religion bestimmt, bzw. durch Gesetze geregelt, die auf Basis des Korans herausgegeben wurden. Zwar gab es häufig auch eigene Gerichtsbarkeiten für Christen und Juden (auch dies eine Prämisse des koranischen Rechts), doch die Religion mit dem höchsten Prestige (und damit auch mit den meisten Privilegien) war der Islam. Juden und Christen mussten eine Schutzsteuer (Dhimmi-Steuer) entrichten und galten demnach als Schutzbefohlene, die folglich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Herrschern muslimischen Glaubens standen.
Mit der Gründung der Republik im Jahre 1923 änderte sich diese Art der Rechtsnorm grundlegend. Menschen, die fortan auf dem Gebiet der heutigen Türkei lebten, waren nun nicht mehr Kurden, Armenier oder Lazen, sondern wurden per Dekret zu „Türken“ (im Sinne von türkischen Staatsbürgern) gemacht. Die Religion spielte nun eine untergeordnete Rolle. Dies umso mehr, als sie nicht mehr Hauptinstanz für das Ersinnen und die Herausgabe von Gesetzen war. An die Stelle der Scharia traten ein französisch inspiriertes Zivilrecht und ein auf italienischen Grundlagen fußendes Strafrecht. Das Eherecht wurde reformiert und Scheidungen (vor allem für Frauen) vereinfacht. Als Ausdruck des neuen republikanischen (und europäisch geprägten) Bewusstseins wurde der Fez (eine kegelförmige Kopfbedeckung) als Symbol übertriebener Frömmigkeit deklariert und verboten. Das gleiche galt für den Umhang und die Pluderhosen. An die Stelle dieser typisch orientalischen Kleidungsstücke traten Frack, Anzug und Zylinder.
Das Kuriosum hierbei besteht nun darin, dass die Begründung für diesen Stilwandel zwar in einer Distanzierung zur vormaligen religiösen Prägung des Staatswesens lag, es allerdings nur die halbe Wahrheit wäre, zu behaupten, dies sei der erste und einzige Versuch einer Moderniesierung gewesen. Zuvor nämlich hatten die Befürworter des Fez (Jungtürken) den Turban aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Begründung hierzu war, dass dieser „zu arabisch“ sei und nichts mit dem Türkentum zu tun habe. Der Fez hielt sich später sehr lange Zeit als Kopfbedeckung in den gebildeten Schichten des Reiches sowie dem Beamtentum. Es steht sogar zu vermuten, dass der Fez, aufgrund seiner kegelförmigen Gestalt, an den europäischen Zylinder angelehnt war. Er sollte gewissermaßen eine Art orientalisches Pendant zu selbigem darstellen und damit europäische Eleganz in den osmanischen Kleidungsstil einfließen lassen. Ob dies seinerzeit gelungen ist, bleibt zu diskutieren. Fest steht allerdings, dass Atatürk selbst Frack und Zylinder bei vielen offiziellen Anlässen anlegte und auf manchen Bildern auch mit einer zylinderförmigen, fellüberzogenen Kopfbedeckung zu sehen ist, wie sie heute noch bei vielen Völkern des Kaukasus (z.B. Tschetschenen oder Aserbaidschanern) vorkommt. Doch auch dies zeigt durchaus, dass sich Atatürk damals einer anderen Tradition des Türkentums als dem osmanischen Erbe verpflichtet sah.
Heute indessen muss man sich fragen, welche Spuren von Atatürk in der Türkei eines Recep Tayyip Erdoğan verblieben sind. Zwar hatte sich dieser Präsident im Jahre 2013 zum 90-jährigen Jubiläum der Republik zusammen mit einem gerahmten Bild des „Vaters der Türken“ ablichten lassen, jedoch war seine Politik später von ganz anderen Zügen getragen, die eher an eine Wiederbelebung des osmanischen Erbes als an eine Kontinuität kemalistischer Ideen und Werte erinnern.
So stand beispielsweise die Herausstellung islamischer Tugendhaftigkeit (gerade bei Frauen) ziemlich weit oben auf der Agenda. Dies ist auch am Auftreten von Emine Erdoğan in der Öffentlichkeit erkennbar. Die Ehefrau des Staatsoberhauptes lächelt vor Publikum kaum, trägt lange, züchtige Kleidung und natürlich den Hicab (Kopftuch) als Ausdruck tiefster Frömmigkeit. Ebenso verhielt es sich mit Sare Davutoğlu, der Ehefrau von Ahmet Davutoğlu, dem ehemaligen Vorsitzenden der AKP (2014-2016). Zwar zeigt sie ihren Anhängern durchaus ein strahlendes Lächeln und damit auch eine gewisse Volksnähe, aber dennoch erscheint hier die Rollenverteilung in der Öffentlichkeit als klar vorgegeben. Die Männer regieren und die Frauen unterstreichen deren Stärke und Unantastbarkeit.
Man kann hier also zu dem Schluss kommen, dass vieles von dem, was früher in türkischen Filmen der 1970er und 1980er Jahre an Modernität gezeigt wurde, heutzutage deutlich in Frage gestellt wird. Denn während z.B. berufstätige Frauen in der Zeit von 1960-1980 durchaus in steigender Tendenz auftraten, ist diese Zahl bereits seit den 1990er-Jahren wieder rückläufig. Die Hinwendung zum Islam mag damit zu tun haben, zumal Präsident Erdoğan auch in seinen politischen Reden vielfach auf diese Karte setzte. Wohl war aber auch die desaströse wirtschaftliche Lage daran schuld, in der seine Amtsvorgänger die Türkei hinterlassen hatten. Genau diese ökonomischen Probleme waren es nämlich auch, die vielfach dazu führten, dass werktätige Frauen zu Hause blieben, da andernfalls die Betreuung der Kinder nicht mehr gewährleistet gewesen wäre. Ähnliche Probleme finden wir aber auch in der westlichen Welt vor, sodass man die Politik der Türkei hier nicht einfach als „rückschrittlich“ aburteilen kann. Eher muss man von der Absicht ausgehen, gescheiterte Modernisierungsversuche wieder „gerade zu rücken“. Denn eines hat Erdoğans Politik für die Türkei sicher gebracht: Stabilität. Dass der Preis hierfür sowie für eine aufstrebende Wirtschaft ein höchst fragwürdiger Kurs aus Nationalismus, religiöser Verbrämung und diversen Drohgebährden gegenüber dem Westen ist, sollte dabei jedoch immer bedacht werden. Ob sich eines Tages wieder einmal mehr Laizismus oder pro-europäische Strömungen wie zu Zeiten eines Nazim Hikmet oder eines Aziz Nesin durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Hierzu müssten solche progressiven Ideen erst einmal wieder mehr Rückhalt in der Bevölkerung finden. Doch aktuell ist sowohl die politische, als auch die kulturelle Entwicklung des Landes Türkei eher schwer vorherzusagen.
b) Aserbaidschan- die Flamme des Fortschritts in der Hand des Volkes
Während sich in der Republik Türkei meist konservative Ideen durchsetzen konnten und man Neuerungen eher skeptisch gegenüber stand, war die Situation im benachbarten Aserbaidschan durchaus eine andere. Denn hier spielen, neben der eigentlichen Geschichte der Staatlichkeit, auch noch andere kulturelle und politische Einflüsse eine Rolle, die es so in der Türkei (auch nach Atatürk) nicht gegeben hat. Begonnen hatte die Staatlichkeit Aserbaidschans mit der Bildung von Khanaten, einer Herrschaftsform, die der eines Fürstentums nahekommt, aber auch in Europa (z.B. in Bulgarien) zeitweise zu finden war. Das bekannteste dieser Khanate war „Ganja“, benannt nach der gleichnamigen Stadt, die später, in den Jahren 1918-1920 (während der ersten unabhängigen Republik) auch die Hauptstadt des Landes wurde. Vorher jedoch, während der Eroberung durch die Araber im elften Jahrhundert, gab es eine andere zentrale Gestalt, die das nationale Bewusstsein der Aserbaidschaner und die Sicht auf ihre eigene Entwicklung nachhaltig prägen sollte. Die Rede ist von Babǝk, einem Freiheitskämpfer, der während der Schlachten gegen die arabischen Invasoren auf Seiten der Aufständischen für die Freiheit Aserbaidschans kämpfte. Diesen Kampf verlor er jedoch, sodass die Aserbaidschaner am Ende doch den Islam annahmen und ihn bis heute auch als Teil ihres Kulturgutes pflegen. Diese Konversion jedoch geschah, besonders am Anfang der arabischen Fremdherrschaft, äußerst widerwillig. Denn nicht umsonst wird Aserbaidschan als „Land des Feuers“ bezeichnet. Jahrhunderte zuvor hatten nämlich bereits Menschen auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan gesiedelt. Diese waren, bedingt durch den persischen Einfluss im Süden, Anhänger des Zarathustrier-Kultes gewesen, der dem Feuer als Element besondere Bedeutung beimaß. Durch die Ölvorkommen im Boden und Gasaustritte, die sich zuweilen entzündeten, kam es zu Explosionen, die seinerzeit als Ausdruck einer göttlichen Kraft gedeutet wurden. Eine solche Vorstellung war natürlich den arabischen Eroberern fremd, die sich ja bereits im siebten Jahrhundert von der Verehrung etwaiger Naturgewalten verabschiedet und der neuen Buchreligion (Islam) zugewandt hatten. Nach dem arabischen folgte der persische Kontakt, der aus den Aserbaidschanern, anders als aus anderen Turkvölkern, Muslime schiitischer Prägung machte und dazu noch beträchtlichen Einfluss auf die Sprache nahm. Denn anders als im Türkei-Türkischen, das seit 1923 konstant von arabischen und persischen Wörtern „gesäubert“ worden war, nahm das Aserbaidschanische eine andere Entwicklung. Archaismen, vor allem aus dem Persischen, blieben erhalten. Persische Satzstrukturen, die zuweilen an europäische statt an türkische erinnern (Persisch gehört zur indo-europäischen Sprachfamilie), blieben, besonders im mündlichen Sprachgebrauch, üblich.
Das Schriftsystem blieb ebenfalls zunächst ein arabisch-persisches. Erst Mitte der 1920er Jahre wurde es, wie in vielen anderen Ländern auch, durch ein kyrillisches Alphabet mit Sonderzeichen ersetzt, das die sprachspezifischen Laute abbilden sollte. Gleichzeitig fanden, gerade um Baku herum, zahlreiche Russizismen Eingang in die Sprache, was zur Hausbildung eines „nördlichen Standards“ des Aserbaidschanischen führte. Denn im Süden des Landes sowie dem Iran, wo ebenfalls über 30 Millionen Aserbaidschaner leben, war und ist die Sprache (bis heute) eher durch persische Einflüsse geprägt. Dies gilt auch für das Schriftsystem. Leider ist allerdings die Sprachpolitik Teherans als derart rigide zu beschreiben, dass es den iranischen Asebaidschanern sogar verboten ist, ihre Muttersprache offiziell im Alltag (etwa an Universitäten oder auf Ämtern) zu gebrauchen. In der heutigen Republik Aserbaidschan indessen (unabhängig seit 1991) herrscht eine funktionale Zweisprachigkeit. Diese ist aber bei weitem nicht nur auf bestimmte Berufs- und Bildungszweige beschränkt. Denn die sowjetischen Strukturen im Land wurden, auch nach 1991, nie ganz aufgegeben. Es gibt weiterhin russischsprachige Schulen, eine „Slawische Universität“ und einen russischsprachigen Sektor in der Wirtschaft, der überdies eng mit Firmen in Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten zusammenarbeitet. Überdies leben auch viele Menschen in Aserbaidschan, die Russisch als Muttersprache sprechen und sich dennoch als Aserbaidschaner fühlen. Deren kultureller Hintergrund kann recht unterschiedlich beschaffen sein.
So gibt es z.B. eine große russisch-orthodoxe Gemeinde im Land, die aber nicht als ein Relikt aus Zarenzeiten, sondern als fester Teil der Gesellschaft betrachtet wird. Gleiches gilt für jüdische Bürger des Landes, die oftmals auch russischsprachig sind, dies aber auch mitunter als ein kulturelles Unterscheidungsmerkmal betrachten. Aserbaidschanisch sprechen sie meist nicht fließend. Zuweilen kommt auch die Position auf, Aserbaidschanisch sei, aufgrund seines türkisch und persisch basierten Wortschatzes, eher die Sprache von Muslimen, als von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Umgekehrt lässt sich aber eher von einem entspannten Verhältnis zwischen Muslimen, Christen und Juden sprechen. Der in Aserbaidschan gelebte Islam ist durch eine Vielzahl von Bräuchen charakterisiert, die noch aus vor-islamischer Zeit oder der sowjetischen Periode stammen. Hierzu zählen zum Beispiel das Novruz-Fest (eine Art persisches Neujahr) oder das Yolka-Fest (russisches Neujahr). Auch westliche Bräuche, wie z.B. Weihnachten (meist als „Christmas“ bezeichnet) wurden mittlerweile in die Alltagskultur integriert.
In diesem Punkt zeigt sich Aserbaidschan deutlich toleranter als etwa die Türkei, wo in den 2010er-Jahren vermehrt die Idee laut wurde, gerade im Westen des Landes Weihnachtsmärkte abzuschaffen, die man zuvor für westliche Touristen oder für neu eingewanderte (meist deutschstämmige) Bewohner initiiert hatte. Zahlreiche Stadträte und Bürgermeister protestierten jedoch gegen solche Maßnahmen, denn die Märkte machten viele türkische Städte zu einem Anzugspunkt für europäische Touristen und brachten somit Geld in die Gemeindekassen. In Aserbaidschan ist es dagegen üblich, allen Mitgliedern nicht-muslimischer Gruppen zu ihren Festen (auch offiziell) zu gratulieren. Dies zeigt, wie sehr hier gegenseitige Achtung vor verschiedenen Kulturen zu einer Norm geworden ist. Ein anderes und sehr aktuelles Beispiel sind offizielle Gedenkveranstaltungen für gefallene Soldaten. Vor allem während und nach der bewaffneten Auseinandersetzung um Bergkarabach kam es immer wieder vor, dass von offizieller Stelle Beileidsbekundungen erfolgten. Dabei spielte es keine Rolle, ob der gefallene Mitstreiter Muslim, Christ oder Jude, Aserbaidschaner oder Russe war. Es zählte allein das Gefühl der Zugehörigkeit und die Verbindung zur Heimat, die ein Talysche (Perser) in den Augen vieler Aserbaidschaner genauso gut und tapfer verteidigen kann, wie ein Russe oder Turko-Aserbaidschaner. Toleranz, Zusammenhalt und Öffnung für neue Ideen und Einflüsse sind in Aserbaidschan also keine Solgans, sondern in ihrem Zusammenspiel eine historisch gewachsene Realität. Letztere lässt aber auch gleichermaßen zu, dass Althergebrachtes, wenn es sich bewährt hat, im Sinne eines gesunden Konservatismus erhalten wird.
c) Usbekistan und die Uigurengebiete- geteilte Sprache, geteiltes Leid
Die Verwandtschaft dieser beiden Turkvölker ist am deutlichsten durch ihre jeweilige Sprache zu belegen. In beiden Fällen handelt es sich nämlich um Turksprachen des uigurischen Zweigs. Dieser zeichnet sich unter anderem durch eine schwächer ausgeprägte Vokalharmonie und stärkere Nasalierung konsonantisch auslautender Silben im Bereich der grammatischen Morpheme aus. Doch nicht nur sprachliche, sondern auch sozio-kulturelle Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Lebenssphären zeichnen ein wesentlich anderes Bild dieser beiden Ethnien, als dies beiTürken oder Aserbaidschanern der Fall wäre.
Dies liegt zum einen an dem bereits abgeschlossenen Prozess der nationalen Selbstfindung bei Türken und Aserbaidschanern. Denn diese beiden Völker haben bereits ihre jeweiligen Nationalstaaten mit funktionierenden Strukturen aufgebaut und sich eine spezifische Bedeutung auf Weltniveau erstritten. Im Falle von Usbeken und Uiguren ist dies nur bedingt der Fall. Denn auf staatlicher Ebene hat nur Usbekistan tatsächlich ein Gebiet, das es beanspruchen und als Staat führen kann. Im Falle der Uiguren ist dem nicht so, da diese in China zwar zahlreich vertreten sind, dort aber lediglich einen Autonomiestatus besitzen, dessen tatsächliche Umsetzung stark anzuzweifeln ist.
Gleiches gilt für die Usbeken in Afghanistan, die seit den 1980er- Jahren durch die Talibanbewegung unterdrückt werden, sodass von einem kulturellen Leben der usbekischen Diaspora (zumindest in diesem Land) keine Rede sein kann. Genau diesen Zustand eines noch zu erkämpfenden Status und die damit verbundene Findung einer nationalen Identität außerhalb des Mutterlandes ,die stark genug ist, auch Unterdrückungen dieser Art standzuhalten, teilen Uiguren in China und Usbeken in Afghanistan umfassend miteinander. Auch in Usbekistan selbst gibt es verschiedene Phänomene, die darauf schließen lassen, dass das Land (auch nach seiner Unabhängigkeit) noch nicht in einem Zustand politischer, ökonomischer und territorialer Stabilität angekommen ist. Hierzu zählen unter anderem der Grenzkonflikt mit Tadschikistan, der Streit um das Prestige zweier Verkehrssprachen im Land (Usbekisch und Russisch), die langsame bis zögerliche Öffnung hin zu Europa und der erstarkende Konservatismus im Bezug auf Volksglauben und Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Die eigentliche Tragik dabei ist, dass sowohl Usbeken als auch Uiguren über eine jahrhunderte-, wenn nicht gar jahrtausende zurückreichende Kultur verfügen, die in jedweder Form mehr Aufmerksamkeit seitens westlicher Medien verdient.
Hierzu zählen beispielsweise Städte wie Tashkent, Samarkand, Bukhara oder Shahrisabz, die zwar heutzutage, im Zuge der Kultivierung von Tourismus entlang der Seidenstraße, etwas Aufmerksamkeit bekommen, dabei aber im Wesentlichen in ihrer Bedeutung auf schön anzusehende Bauwerke, Teestuben und Baumwollfelder reduziert werden.
Dies trägt dem kulturellen Erbe Usbekistans aber kaum Rechnung, da die Bedeutung der genannten Städte für die kurze Phase der „islamischen Aufklärung“ umso größer war, je kürzer diese Periode an sich gedauert hat. Überdies kommt man auch hier nicht umhin, einen Widerspruch aufzudecken, der in historischer Hinsicht gleich zweifach auffällig ist.
Die „islamische Aufklärung“ nämlich fand vorwiegend auf dem Gebiet des heutigen Usbekistan statt. Auch zu Zeiten der UDSSR waren viele größere Städte in Usbekistan hochmodern und lieferten immensen Input für die sowjetische Kulturszene. Dies galt besonders für Musik, Tanz und Theater, zumal in Tashkent eine bis heute existierende Fakultät der staatlichen Universität Studierende in diesen Kulturzweigen ausbildet. Auf gesellschaftlicher Ebene muss allerdings eine eher regressive Tendenz festgestellt werden. Die Hinwendung zu Volkstraditionen, Religion (zuweilen auch zu islamischem Fanatismus) und traditionellen Rollenbildern hat, gerade in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit, rapide zugenommen.
Doch ähnlich wie in der Türkei der 1990er-Jahre kann diese Entwicklung mit wirtschaftlichen Einschnitten und Absinken des Lebensstandards teilweise erklärt werden. Außerdem spielt dabei auch durchaus die Geographie des Landes eine Rolle. Denn während die Türkei und Aserbaidschan relativ dicht besiedelt und von vielen städtischen Gebieten durchzogen sind, ist Usbekistan, mit etwa 33 Millionen Einwohnern auf einer Fläche etwa dreiviertel so groß wie Europa, relativ dünn besiedelt und dazu noch vorwiegend ländlich geprägt. Dies führt dazu, dass viele junge Usbeken ihre Heimat verlassen, was von der Landflucht vom Dorf in die Stadt bis zur Emigration reicht.
Viele junge Menschen arbeiten in Russland als Gastarbeiter (usb. musofir) auf Baustellen oder Feldern.
Die Arbeitsbedingungen sind dabei oft schlecht und nicht selten von den jeweiligen Arbeitgebern auf illegale Weise organisiert. Aber hier politisch einen Riegel vorzuschieben, ist kaum möglich, da die neue Regierung in Usbekistan noch viel zu kurz in Amt und Würden ist, als dass sie Fehlentwicklungen aus über zwei Jahrzehnten (1991-2015) schnell beheben könnte. Politisch war dies insofern schwierig, als dass nach dem Tod von Präsident Islom Karimov im Jahr 2016 erst einmal ein Nachfolger gefunden werden musste. Am 08.09.2016 übernahm Shavkat Mirzyoyev die Amtsgeschäfte und versucht seither, das Land auch in eine liberalere Wirtschaftsordnung zu führen, die es ermöglichen sollte, mehr Unternehmergeist zu fördern und damit auch Arbeitsplätze im Land zu schaffen. Ob dies bisher gelingt, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen.
Es lässt sich also über die Uigurengebiete Chinas und Usbekistan gleichermaßen festhalten, dass sie in beiden Fällen von Völkern mit einer höchst interessanten Kultur und einem großen Vorrat an historischen Schätzen sowie Wissen aus früheren Zeiten angefüllt sind. Dieses Wissen bleibt westlichen Medien sowie europäischen Bürgern zuweilen verschlossen.
Ursache hierfür können sowohl die mediale Berichterstattung in Europa über die besagten Gebiete, als auch die widrigen Bedingungen in den jeweiligen Ländern sein, dieses kulturelle Wissen bzw. seine historischen Grundlagen gewinnbringend zu nutzen. Wie genau sich beide Ethnien bzw. Staatlichkeiten in naher Zukunft entwickeln werden, ist nur schwer abzuschätzen.
Es bleibt jedoch festzustellen, dass auch hier ein direkter Vergleich mit der Türkei, die ebenfalls in vielerlei Hinsicht gesellschaftliche Widersprüche aufweist, nur bedingt möglich ist. Insofern könnte man sagen, dass die Uigurengebiete sich zunächst aus dem Klammergriff eines autoritären und zuweilen auch grausamen Chinas befreien müssen, um ihre eigene Geschichte weiter schreiben zu können. Usbekistan hingegen befindet sich auf einem richtigen Weg, wenn es um die Öffnung nach außen geht. Innenpolitisch und wirtschaftlich jedoch gibt es noch viel Raum für Veränderung. Doch mit einer relativ jungen Bevölkerung, die oft sogar über ausländisches Know-how und interkulturelle Kompetenz verfügt, steht der gesunden Verbindung von Tradition und Fortschritt in nächster Zeit sicher nichts mehr im Wege.
d) Kasachstan und Kirgisien – zwischen „Kipchak“, „Kumis“ und „Kara Jorgo“
Zuletzt möchte ich mich nun in diesem Überblick noch zwei Turkvölkern zuwenden, deren Beschreibung in verschiedenerlei Hinsicht eigentlich alles vorher Gesagte zusammenfasst. Denn auch hier folgt zunächst die Nennung der beiden Ethnien dem gleichen Prinzip wie im vorangegangenen Abschnitt über Usbeken und Uiguren, da „kipchak“ die Bezeichnung eines Zweigs von Turkvölkern bzw. deren Sprachen ist. Kasachisch und Kirgisisch gehören diesem Zweig an und sind damit sehr eng miteinander verwandt. Im Gegensatz allerdings zu Sprachen wie dem heutigen Türkei-Türkischen oder dem Aserbaidschanischen ist der Einfluss des Persischen und Arabischen deutlich weniger ausgeprägt.
Vielmehr befinden sich im Wortschatz dieser beiden Sprachen viele Lexeme, die quasi als „typisch türkisch“ angesehen werden müssen, da ein Bezug zum Arabischen oder Persischen nicht nachweisbar ist. Selbstverständlich gibt es sowohl im Kasachischen, als auch im Kirgisischen solche Wörter letzteren Ursprungs, nur sind diese weit weniger zahlreich.
Ebenso verhält es sich mit dem Rapport zur Religion. Kasachen und Kirgisen waren beide faktisch vor der Islamisierung Anhänger des Schamanismus bzw. des Tengrismus. Diese alt-türkische Form des Pantheismus hatte nichts mit den später aufkommenden Buchreligionen des Juden- oder Christentums und schon gar nicht mit dem Islam gemeinsam. Dennoch muss man feststellen, dass gerade diese Buchreligionen später, in der Zeit des Russischen Reiches, eine wesentliche Rolle für die Konsolidierung der Gesellschaft gespielt haben. Auch nach der Auflösung der UDSSR war dies der Fall, vor allem deshalb, weil gerade Kasachstan , ähnlich wie Aserbaidschan, über Jahrhunderte ein multi-ethnischer Staat gewesen war.
Im Falle von Kirgisien ist dies insoweit festzustellen, als dass der Gründungsmythos dieses Landes von 40 Stämmen ausgeht (qɪrx= vierzig), die später zu einer Nation, also den heutigen Kirgisen, zusammengefasst wurden. Die Kulturen beider Länder haben, wenn man von den Charakteristika des originären (nicht importierten) Kulturgutes ausgeht, vieles gemeinsam. Beide Völker lebten in ihrem Ursprung nomadisch und gewannen ihre Lebensmittel immer aus dem, was die Natur ihnen gab. So ist z.B. „Kumis“, ein Getränk aus vergorener Eselsmilch, in beiden Kulturen vertreten. Andere Gerichte auf dem Speiseplan diverser Haushalte (wie z.B. Bliny, Pelmeni, Lapsha) stammen aus der russischen Küche, werden aber heute noch gern bei verschiedenen Gelegenheiten zubereitet. Auch der „Kara Jorgo“ , ein Volkstanz, findet sich in beiden Ländern wieder. Dieser wird sowohl von Männern, als auch von Frauen getanzt und bei Veranstaltungen dargeboten. Dies ist insofern erwähnenswert, als dass, ähnlich wie in Aserbaidschan, die Rolle der Frau schon sehr frühzeitig eine Emanzipation erfuhr. Letztere ist aber nicht, wie man aufgrund der lang andauernden russischen Einflüsse annehmen könnte, auf die Ideenlehre der Sowjetunion oder ein europäisches Frauenbild zurück zu führen, sondern eher auf eine traditionell türkische Sichtweise. Eine Frau musste vielseitig sein, wollte sie als Mutter und Beschützerin der Jurte (türkisches Wohnzelt) das Leben in den Steppen- oder Bergregionen Zentralasiens meistern. Doch muss gerechtigkeitshalber auch erwähnt werden, dass, gerade in ländlichen Gegenden, eine traditionelle Rollenverteilung durchaus wieder gepflegt wird. Denn nicht zuletzt dem Lebens- und Bildungsstandard einer Familie ist es geschuldet, wie sehr sich dem traditionellen Leben und damit einer Welt mit unumstößlichen Regeln zugewandt wird. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass nicht auch gebildete Familien die islamischen oder vor-islamischen Riten und Bräuche noch pflegen. Jedoch ist zu beobachten, dass dies einerseits von dem gesellschaftlichen Umfeld (Stadt und Land), der Ethnie (Kasache, Kirgise, Russe) und auch dem Arbeitsumfeld (nationaler/russischsprachiger Sektor) abhängt.
Die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe entscheidet oftmals nämlich auch darüber, welche Bildung ein kasachischer oder kirgisischer Bürger erhält und inwieweit er sich an eine traditionelle Lebensweise bindet oder sich von ihr entkoppelt.
Zu letzterem trägt vor allem das Leben und Arbeiten im Ausland (vor allem in Europa und Russland) bei, wo mancher junge Mensch entweder das Vergessene wiederentdeckt und sich seiner eigenen kulturellen Marker erinnert, oder aber sich von den einst gelernten Regeln und Normen abwendet und einen neuen, meist westlichen Lebensstil annimmt, der auf Effizienz und Erfolg ausgerichtet ist. Hierbei hilft schon der Umstand, dass Kirgisien und Kasachstan beide laizistisch und säkular regiert werden. Mag es auch Menschen mit einer weniger weltoffenen Einstellung vereinzelt geben, so muss man insgesamt feststellen, dass Kasachstan und Kirgisien bedeutend weniger zu einem religiös motivierten Traditionalismus neigen, als dies aktuell in vielen Regionen der Türkei, den Uigurengebieten Chinas oder in Usbekistan der Fall ist. Natürlich bestätigen auch hier Ausnahmen immer die Regel. Denn auch aus Kasachstan und Kirgisien gab es u.a. Freiwillige, die für den IS in Syrien kämpften oder die in Afghanistan den Taliban halfen, ihre Gräueltaten zu begehen. Oftmals sind solche Biografien aber Folgen eines beruflichen oder familiären Scheiterns im eigenen Land oder Ausdruck eines Gedankens nationaler Befreiung von Fremdherrschaft. Insofern ist es hier weniger der kulturelle Geist der eigentlichen Heimatländer dieser Menschen, als mehr die Idee, andere im Kampf gegen eine Fremdherrschaft oder ein bestehendes politisches System zu unterstützen.
Dies ändert aber nichts daran, dass auch diese beiden Länder und ihre Völker seit ihrer Unabhängigkeit von Russland im Jahr 1991 einen Weg gefunden haben, Tradition und Progressivität effizient miteinander zu verbinden.
Fazit
Die wesentlichen Gemeinsamkeiten aller hier betrachteten Turkvölker und ihrer Staaten liegen in der Verwandtschaft ihrer Sprachen sowie einer Kulturalität begründet, die auf einem erworbenen Islam weit nach der eigentlichen Herausbildung der Turkvölker in Zentralasien fußt. Diese Religion knüpfte dann jeweils an frühere Riten und Kulte an, die ihrerseits in der Verehrung von Naturgottheiten oder schamanischen Praktiken bestanden. Auch Liedgut und Tänze als Ausdruck kultureller Produktivität können in manchen Fällen Ähnlichkeiten aufweisen, wie im Falle von Kasachstan und Kirgisien deutlich zu erkennen ist. Unterschiede finden sich jeweils in Bezug auf die einzelnen Staatlichkeiten, deren Entstehungsgeschichte und spätere politische Traditionen. Hier liegt nun jener Hauptunterschied begründet, der ursächlich dafür ist, dass Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan und die Uigurengebiete sich nur bedingt mit der heutigen Türkei vergleichen lassen.
Denn während letzere aus einem über 600 Jahre lang herrschenden Großreich hervorgegangen ist und bis heute Teile dieses Erbes kultiviert, zeigen sich die anderen Turkstaaten wesentlich progressiver und konzilianter im Bezug auf den Kontakt mit der kontinentaleuropäischen Kultur. Dies lässt sich meines Erachtens durch den russischen Einfluss während der Zarenherrschaft und der Sowjetzeit erklären, aber auch durch die Tatsache, dass gerade Religion und Brauchtum immer Teil des gesellschaftlichen Lebens, niemals aber Hauptinstanz für Gesetzgebungen oder dogmatisches Handeln waren.
Die Idee einer Zivilgesellschaft war, besonders nach der Erlangung der Unabhängigkeit, weiterhin Triebfeder für einen progressiven Kurs. Die Sicht auf die eigenen Ursprünge lässt außerdem in den Ländern Zentralasiens noch Raum für historische Betrachtungen bezüglich jener Zeit, als Aserbaidschaner noch Feueranbeter waren, Usbeken noch schamanische Rituale vollzogen und Kasachen als Nomaden in der Steppe der Sonne entgegen ritten.
Diesen Teil der Geschichte ihrer eigenen Ursprünge blendet die heutige Türkei (leider) aktuell aus. Das osmanische Erbe und seine religiösen Komponenten nehmen eine sehr wichtige Rolle ein, sodass, obwohl die Bewohner der heutigen Türkei schon lange nicht mehr „Osmanen“, sondern „Türken“ genannt werden, die Bedeutung dieser Bezeichnung (Türk=„Reiter“) sich nicht mehr an der kulturellen Praxis ablesen lässt. Für meine Begriffe ist es daher gut, dass die Türkei versucht, den kulturellen Austausch mit ihren turksprachigen Nachbarn zu intensivieren und zu pflegen. Doch diese Länder werden mit Sicherheit darauf achten, einen wesentlichen Unterschied zu machen: „Türkischer Einfluss: Ja, bitte! Osmanische Dominanz: Nein, danke!“ Letztere nämlich steht im Widerspruch zu jener Freiheit des Herzens und des Gedankens, die schon die Ahnen dieser Völker in den Weiten der Steppe Zentralasiens zu sehr geliebt haben, um sie jemals aufgeben zu können.
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