Zwischen Halbmond und Davidsstern- zum Verhältnis von Judentum und Islam in Aserbaidschan vor dem Hintergrund der Unruhen in Gaza im Mai 2021

von Matthias Wolf

Seit nunmehr über 70 Jahren sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israelis und  Palästinensern ein Hauptgrund für die Instabilität des Nahen Ostens in seiner Gesamtheit. Dieser Konflikt hat bis in die heutige Zeit, abgesehen von einigen kurzen und seltenen Phasen der Entspannung (oder des Verschweigens internationaler Medien) niemals einen wirksamen Lösungsprozess durchlaufen. Es verwundert daher nicht, dass der Streit um die Legitimität Palästinas immer mehr zivile Opfer auf beiden Seiten fordert. Die Frage, die sich dabei immer öfter erhebt, ist freilich , um welche Art von Konflikt es sich im eigentlichen Sinne handelt, bzw. welches Attribut diesen Kriegshandlungen am ehesten zukommen muss, wenn man ihrer Natur auf den Grund gehen will. Nicht selten hat, gerade in westlichen Diskursen, die Idee Fuß gefasst, es handle sich um einen ethnisch-religiösen Konflikt zwischen Juden und Muslimen, die aufgrund kultureller und religiöser Unterschiede einfach nicht miteinander in Frieden leben könnten. Noch mehr wird diese Behauptung in Europa dadurch genährt, dass tatsächlich viele arabischstämmige Bürger in Deutschland und Frankreich Vorurteile gegen Mitmenschen jüdischen Glaubens vorbringen und diese nicht selten mit den nur allzu eindringlichen Szenarien des Krieges im Gazastreifen rechtfertigen.

Allerdings reichen die Ursachen viel weiter in politische Entscheidungen der westlichen Welt selbst hinein, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn sind die Kriegsparteien natürlich in ester Linie Israel und die Palästinensergebiete selbst, so muss doch festgestellt werden, dass (allgemein gesprochen) ausländische Mächte die bewaffneten Handlungen befeuert und aktiv Kriegsmaterial auf beiden Seiten beigesteuert haben. Dies geschah mitunter auch ungeachtet der eigenen kulturellen Anbindung. Religion und Staatsräson spielen zwar durchaus eine Rolle in der Frage, auf wessen Seite man sich letztendlich positioniert hat, jedoch können auch andere Gründe verschiedener Art eine auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkende Haltung gegenüber der einen oder anderen Konfliktpartei bedingen. Dies gilt auch für die offizielle Position Aserbaidschans, das  staatlicherseits- trotz einer  (schiitisch-) muslimischen Bevölkerungsmehrheit- Israel in diesem Kampf zu unterstützen pflegt. Der folgende Aufsatz stellt nun einen Versuch dar, sowohl das Verhältnis Aserbaidschans zu seinen eigenen jüdischen Bevölkerungsteilen auf der einen, als auch das politische und ideelle Gebaren gegenüber Israel und Palästina auf der anderen Seite zu beleuchten.  Hierbei soll auch auf die historischen Voraussetzungen für beide Fälle sowie auf die Diskrepanzen und Widersprüche in Bezug auf die generelle Haltung zum Judentum und das Existenzrecht Israels vonseiten der Regierung und der Bevölkerung eingegangen werden.

Zunächst ist grundsätzlich vorweg zu schicken, dass in Aserbaidschan keinesfalls jene anti-jüdischen Haltungen üblich sind, wie man sie häufig in vielen arabischsprachigen Ländern antrifft. Die Tatsache, dass Aserbaidschan- sowohl in den Anfängen seiner Staatlichkeit, als auch später unter russischem Einfluss- niemals Unterschiede zwischen seinen Bürgern bezüglich der religiösen Zugehörigkeit gemacht, sondern lediglich auf einem nationalen Bekenntnis und damit auf die Loyalität zum Land selbst bestanden hat, ist entscheidend für diese Betrachtungen. Bürger jüdischen Glaubens leben  bis heute in verschiedenen Städten des Landes mit muslimischen und christlichen (meist russisch-orthodoxen) Gläubigen Tür an Tür. Auch eine ethnische Unterscheidung der jeweiligen Glaubensgemeinschaften kann, aufgrund der kaukasischen und proto-slawischen Phänotypen im Land, meist nicht getroffen werden. Lediglich in Bezug auf die Priorisierung der Sprache ist fest zu stellen, dass Anhänger jüdischer und christlicher Gemeinden oftmals mehr zum Russischen als zum Aserbaidschanischen tendieren. Allerdings ist auch dies kein feststehendes Merkmal, da durchaus auch aserbaidschanische Juden die Turksprache beherrschen können, ohne dass dies ihre bevorzugte Sprache im Alltag wäre. Umgekehrt jedoch sind viele Aserbaidschaner muslimischer Herkunft, sofern sie nicht eine russische Schule besucht haben, der Ansicht, dass die Beherrschung des Russischen nicht unbedingt notwendig sei und die Turksprache den größeren Raum einnehmen solle. Diese Haltung zur Muttersprache bedingt aber wiederum auch nicht zwangsläufig das Verhältnis zu Mitmenschen anderer Glaubensrichtungen. Insofern kann man also  davon ausgehen, dass die jüdischen Bürger Aserbaidschans als Teil von Land, Kultur und Gesellschaft allgemein akzeptiert sind.

Als komplexer und facettenreicher erweist sich jedoch die Haltung gegenüber dem Staat Israel. Dieser wird zunächst vonseiten der aserbaidschanischen Regierung in seiner Existenz nicht in Frage gestellt. Anders als der Partnerstaat Türkei, der auf politischer Ebene signifikante Vorbehalte gegen das Existenzrecht Israels hegt und einseitig die Palästinenser bei ihren Auseinandersetzungen unterstützt, setzt Aserbaidschan auf eine andere Form der Kommunikation. Dies hat seinen Ursprung in den politischen Nachwirkungen des Zerfalls der Sowjetunion. Letztere hatte sich immer gegenüber dem Existenzrecht Israels neutral verhalten, weil dessen Ursprung der Staatlichkeit im Jahre 1948 auf westliche Hilfe aus den USA und Großbritannien zurückging.
Auf politischer Ebene wurden, auch der Ideologie wegen, die palästinensischen Kampfgruppen unterstützt, von denen ein Teil auch der sozialistischen Ideologie gegenüber nicht abgeneigt schien. In der Folge war freilich klar, dass Israel selbst nach einer Anbindung an den Westen strebte und das sozialistische Lager in Europa insgesamt eher mied .

Nach 1991 jedoch änderte sich die Situation vollkommen. Israel und die USA wandten sich den ehemaligen Mitgliedsstaaten der UDSSR zu, um neue Märkte und Möglichkeiten politischer Kooperation zu erschließen. Dies galt auch im Falle von Aserbaidschan.
Als 1992 die bewaffneten Auseinandersetzungen um Karabach wieder einmal aufflammten, unterstützte Israel (auch mit Rücksicht auf die dortige jüdische Bevölkerung) Aserbaidschan in diesem Kampf. Armenien hingegen bezog sein Kriegsmaterial aus dem Iran.  Auch zu anderen Ländern wie Usbekistan oder Kasachstan wurde Kontakt aufgenommen, um bei einer wirtschaftlichen Neuorientierung behilflich zu sein, die gerade in den 1990er-Jahren dringend notwendig schien. Allerdings tat Israel dies auch nicht ohne einen entscheidenden Hintergedanken.  Es ging dabei nämlich nicht nur um die Kontakte zu jüdischen Gemeinden in Samarkand, Buchara oder Baku, die bereits seit Jahrhunderten dort verwurzelt gewesen waren. Vielmehr war Israel daran interessiert, auch die Nachfolgeregierungen der vormals sozialistischen Staaten auf seine Seite zu ziehen und damit eine Loslösung von der russischen Ägide zu bewirken.
Denn auch nach dem Zerfall der UDSSR blieb das Verhältnis zwischen Moskau und Tel Aviv eher gespannt.

Die russische Politik betrachtete die pro-westliche Entwicklung Israels und damit auch die Beziehungen zu den ehemaligen Bruderstaaten im Süden mit Argwohn. Auch hier ist allerdings kein klassischer Antisemitismus als Grund anzuführen, sondern eher die Tatsache, dass Israel von Beginn an auf eine Westanbindung an Europa und die USA setzte. Es ist überdies unbestreitbar, dass Israels Aufbau positiver Beziehungen zu ursprünglich muslimisch geprägten Staaten der ehemaligen UDSSR weniger religiös als mehr ideologisch motiviert war. Das Modell einer westlich-orientierten Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen sollte auch in die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken exportiert werden. Was allerdings die kulturellen Gegebenheiten anging, entwickelten sich Israel und die ehemaligen (muslimisch geprägten) Länder der UDSSR sehr unterschiedlich. Denn während in Aserbaidschan, Usbekistan, Kasachstan oder Tadschikistan lebende jüdische Mitbürger weiterhin mit Respekt behandelt wurden, war in Israel bereits eine politisch institutionalisierte Anti-Haltung gegen  muslimische Bürger auf den Plan getreten. Selbst Juden arabischer Muttersprache wurden diskriminiert, obwohl sie sich eindeutig  zum  Glauben an die Tora und damit zum ursprünglichen Israelitentum bekannten. Dieser Zustand hält bis heute an, wird aber nur selten in europäischen Medien publik gemacht.


Auch ist wenig über die Art des israelischen Staates bekannt, in der dieser die eigenen Bürger zu disziplinieren pflegt, sofern  diese sich nicht an die Regeln eines orthodoxen Judentums halten wollen. Dies gilt besonders für Mädchen und junge Frauen in der Öffentlichkeit.

Bezüglich der individuellen politischen Haltungen vieler Aserbaidschaner ist bei dieser Thematik eindeutig festzustellen, dass auch hier die persönlichen Meinungen auseinandergehen können.
Ein Teil der Zivilbevölkerung unterstützt die israelische Politik. Dies wiederum erfolgt oftmals aus der Dankbarkeit heraus, mit der sich die Betreffenden an die israelische Hilfe im Kampf um Karabach  erinnern. Zudem sehen viele Unterstützer Israels den Grad der Religiosität bei vielen Palästinensern als problematisch an, da ihnen diese Art der islamischen Glaubenspraxis zu streng erscheint. Umgekehrt ist bei vielen Menschen, die die palästinensische Seite zu unterstützen geneigt sind, die Idee entscheidend, dass man die „Geschwister im Islam“ nicht verraten oder im Stich lassen dürfe, sofern sie in Not geraten. Allerdings ist hierbei nicht unbedingt die individuelle Haltung zur Religion ausschlaggebend, sondern eher die Wahrnehmung, dass aufgrund der israelischen Vergeltungsangriffe viele Zivilisten und vor allem Kinder zu leiden haben. Man kann also die Position dieser Meinungsträger als  durchaus legitim empfinden, wenn man dabei berücksichtigt, dass es diesen Menschen nicht  notwendigerweise um Einseitigkeit in der Debatte zugunsten der eigenen Religion, sondern um die Verarbeitung von gewonnenen Eindrücken und vielleicht sogar um eine enttäuschte Toleranz gegenüber der jüdischen Bevölkerung im eigenen Lande geht. Klassischen Antisemitismus (konkreter: Antijudaismus) gibt es in Aserbaidschan zwar nicht, aber jene Wut über das Leid der palästinensischen Bürger im Staate Israel sitzt tief genug, um zumindest auf politischer Ebene Israels Regierung und den eigenen Präsidenten für seine Diplomatie offen zu kritisieren. Insofern sind, sowohl in Bezug auf die Einstellungen selbst, als auch auf die Gründe für letztere die Sichtweisen zu vielfältig und widersprüchlich, als dass hier eine Verallgemeinerung  angebracht erscheint. Insgesamt ergibt sich ein recht kontroverses Bild bezüglich der aserbaidschanisch-israelischen Beziehungen und dem Verhältnis zu Palästina. Diese Widersprüchlichkeit ist sowohl auf kulturelle, als auch auf politische Faktoren zurück zu führen. Mag die politische und existenzrechtliche Unterstützung für Israel offenkundig ein Teil aserbaidschanischer Staatsräson sein, so ist dennoch eine kulturell und ereignisgeschichtlich motivierte Solidarität mit der palästinensischen Seite unbestreitbar. Inwieweit diese als eindeutig oder opak bezeichnet werden muss oder auf welchen Ebenen der Gesellschaft sich beide Positionen am deutlichsten lokalisieren lassen, bleibt schwierig abzugrenzen. Sowohl in der offiziellen Politik, als auch aus Sicht der Zivilgesellschaft sind beide Positionen vertreten. Antisemitismus im Sinne einer anti-israelischen oder gar anti-jüdischen Haltung ist nicht zu beobachten, da weder jemand etwas gegen israelische Bürger im eigentlichen Sinne, noch gegen Menschen jüdischen Glaubens in Aserbaidschan hat. Die Versuche Israels, Aserbaidschan einseitig für sich einzunehmen, scheitern indessen offenkundig an der Vielfalt der  dortigen Gesellschaft, da diese nicht homogen aus Muslimen, Christen oder Juden zusammengesetzt ist. Umgekehrt wird sich Aserbaidschan nicht von Israel abwenden, da, bei aller Kritik an der Politik Benjamin Netanjahus, das Signal für die (oft russischsprachigen) Juden im Land fehlinterpretiert werden könnte.
Selbst wenn man unterstellt, dass Aserbaidschan zu etwa 90% muslimisch geprägt ist, so ist eine Politik der Balance nach innen und außen nur allzu nachvollziehbar, da auch im Koran von Menschen jüdischen (und christlichen) Glaubens als von „Schriftbesitzern“ gesprochen wird, deren heilige Bücher nicht verdammt, sondern in ihrem Inhalt bestätigt werden sollen. In diesem Sinne bildet auch die außenpolitische Haltung Bakus beiden Konfliktparteien gegenüber eine wesentliche Grundlage für die eigene nationale und  kulturelle Selbstbehauptung.