Wirbel um den Einsatz von Iskander-Raketen in Bergkarabach.

Vitaly V. Kuzmin

von Christian Fischer

Die Worte des Premierministers von Armenien Nikol Paschinian über die Wirkungslosigkeit der russischen Waffen während des Krieges in Bergkarabach 2020 sorgten in den letzten Wochen für reichlich Diskussionsstoff.

Zuerst über die Iskander-Rakete: Der russische Marschflugkörper (NATO-Code: SS-26) hat Militärangaben zufolge je nach Nutzlast eine Reichweite von 400 Kilometern. Vom Gebiet Kaliningrad  an der Ostsee könnte dieser Waffentyp demnach bis an die deutsche Grenze fliegen. Im Ernstfall ist dieser auch mit zwei Atomsprengköpfen bestückbar. Im Herstellerwerk „Kolomna KBM“ in Udmurtien werden folgende Ausführungen produziert:

Iskander: Prototyp für die russischen Streitkräfte, bestückbar mit zwei 9M723-Raketen  mit einer Reichweite von 415 Kilometern und einer Nutzlast von 800 Kilogramm.

Iskander-M: Serienversion mit zielgenaueren Raketen (Reichweite 480 Kilometer)

Iskander-E: Exportversion mit zwei 9M723E-Raketen, die eine verringerte Reichweite von 280 Kilometern sowie eine reduzierte Nutzlast von 480 Kilogramm hat.

Iskander-K: Prototyp mit vier Startbehältern für Marschflugkörper R-500 mit einer Reichweite von 500 Kilometern.

Vor dem Hintergrund bewaffneter Auseinandersetzungen in Berg-Karabach richteten westliche Analysten ihre Aufmerksamkeit auf die Bewertung des militärischen Potenzials von Kriegsparteien. Das operativ-taktische Raketensystem Iskander-E wurde vor dem Krieg als größte “Trumpfkarte” Armeniens bezeichnet. Gekauft wurde Iskander-E OTRK zusammen mit anderen Waffensystemen zu „günstigen Preisen“ und sollte mit der Zerstörung strategischer Ziele wie Flugplätze, Kommandozentralen, Luftverteidigungsbatterien und Truppenkontingente dem Feind schwere Schläge versetzen.

Bei der Militärparade anlässlich des 25. Jahrestages der armenischen Unabhängigkeit, die am 21. September 2016 in Eriwan stattfand,  wurden zum ersten Mal die ballistischen Iskander-Kurzstrecken-Raketensysteme demonstriert. Zu Beginn des Krieges in Karabach im September 2020 drohte Armenien seine „Wunderwaffe“ einzusetzen, wenn “das Damoklesschwert in Form einer türkischen F-16 über den Menschen in Berg-Karabach hängen wird”. Nach der militärischen Niederlage verliert Premierminister Paschinjan als „Hauptschuldiger“ immer mehr Rückhalt, will aber nicht aufgeben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Auf der politischen Bühne herrschen chaotische Zustände: Premierminister stellt sich gegen den Generalstab, Präsident Sarkisjan gegen den Premier, der Sicherheitsrat gegen den Präsidenten und den Generalstab. Auslöser der kürzlich zugespitzten innenpolitischen Krise war Paschinjans Äußerung,  „die armenische Armee habe ihre von Russland gekauften Kurzstreckenraketen vom Typ »Iskander« kaum einsetzen können, weil diese nur zu zehn Prozent funktioniert hätten“. Die russische Regierung dementierte derweil Behauptung mit der Formulierung,  das »Iskander«-Raketensystem sei im jüngsten Kaukasus-Krieg überhaupt nicht zum Einsatz gekommen und Paschinjan diesbezüglich einer Fehlinformation aufgesessen.

Die Bedeutung der Iskander Raketen für den russischen militärisch-industriellen Komplex geht  weiter zurück auf das Wettrüsten zwischen der UdSSR und NATO in den 1960er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Jahre 2018 stationierte Russland in der Ostsee-Exklave Kaliningrad Iskander-Raketen. Sie haben eine Reichweite von 500 Kilometern – und könnten Berlin und Warschau erreichen. Nach der Nuklearwaffe  basiert die militärische Stärke Russlands auf diesen Raketen. Deshalb rief Pashinjans Erklärung in Russland große Empörung hervor – immerhin handelt es sich um ausgereiftes Kriegsgerät, und Armenien ist das einzige Land, an das Moskau dieses geliefert hat. Es mag scheinen, dass Pashinjan Putin in den Rücken gefallen ist. Mehrere Abgeordnete des russischen Parlaments kritisierten Paschinjan für diese Erklärung. Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma Viktor Zavarzin wies darauf hin, „Iskander-Raketen seien in Syrien präzise und wiederholt eingesetzt worden und Paschinjans Aussagen seien eine absolute Lüge“. Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, Alexander Sherin sagte seinerseits, “falls  die Worte von Pashinjan falsch sind, sollteer zur Rechenschaft gezogen werden. Dies könne tatsächlich ein schwerer Schlag für den Ruf der russischen Waffe und für das Image des ganzen Landes sein“.

Der Zweifel an hoher Effizienz der russischen Iskander OTRK wurde größer, nachdem es bekannt  wurde, das israelische Luftabwehrsystem „Barak-8“ hätte mindestens eine der beiden abgefeuerten Iskander-Raketen abgeschossen. Dabei ging man bisher davon aus, dass die taktisch-ballistischen Iskander-Raketen aufgrund ihrer komplexen Flugbahn für Luftabwehrsysteme unerreichbar sind.

Was sagt Baku dazu?                                                             

Während des Krieges tauchten sowohl in armenischen als auch in aserbaidschanischen Segmenten der sozialen Netzwerke zwei Videofragmente auf, die zeigten, dass Iskander-Raketen in Bergkarabach tatsächlich zum Einsatz kamen. Doch keine der Konfliktparteien hat bisher Stellung zu den Einzelheiten genommen. Am 31. März meldete dann die aserbaidschanische Agentur für Minenräumung (ANAMA), dass sie Spuren von zwei Iskander-Raketen gefunden hätte, die vermutlich das armenische Militär während des Karabach-Krieges auf  Schuscha abgefeuert haben soll. Dem ANAMA-Chef zufolge wurde der Indexcode 9M723 auf der Rakete während der durchgeführten Untersuchungen überprüft. Diese Überreste befanden sich in einem Abstand von 780 Metern voneinander. Als Ergebnis der letzten Untersuchungen wurde festgestellt, dass es sich um eine “Iskander-M”-Rakete handelt. Ihm zufolge werden erste Untersuchungen an der Stelle der Explosion und um sie herum durchgeführt.

Artak Dawtyan, Chef des Generalstabs der armenischen Streitkräfte, lehnte es ab, den möglichen Einsatz von Iskander-Raketen durch die armenische Seite während des 44-tägigen Krieges zu kommentieren. “Ich kann nichts sagen, da diese Information nicht der Offenlegung unterliegt”, so der Generalstab.

Das Dementi aus Russland ließ nicht lange auf sich warten. Iskander-Raketensysteme seien während der Eskalation der Lage in Berg-Karabach nicht eingesetzt worden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. “Nein, soweit ich weiß – das ist eine neue Information. Ich weiß nicht, ob es durch das Militär gemeldet wurde und ob unser Militär über irgendwelche detaillierte Informationen verfügt”, antwortete Peskow auf die Frage, ob dem Präsidenten Putin die Berichte der aserbaidschanischen Seite über die Entdeckung von Überresten der russischen Rakete in Karabach bekannt sei.

Caliber.az

Die Aussagen des ANAMA-Chefs werfen aus russischer Sicht unangenehme Fragen auf: “Der Indexcode 9M723 auf der Rakete, die auf Schuscha abgefeuert wurde, zeigt, dass es sich um eine M-Rakete handelt, nicht um E-Version. Armenien besitzt nachweislich die schwächere E-Ausführung. Kurz vor der Unterzeichnung der trilateralen Erklärung zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland in der Nacht vom 9. zum 10. November sprach die aserbaidschansiche Seite zudem vom Abschuss einer Rakete in der Nähe der Hauptstadt Baku. Von wo aus wurde diese abgefeuert? Die Antwort liegt im Prinzip auf der Hand, denn die Reichweite der Iskander-E Exportversion mit 9M723E-Raketen ist gering und liegt maximal bei 280 km, was ihren Start selbst von Karabach aus ausklammert. Zu den gefundenen Überresten der Iskander M-Rakete hat die politische Führung Aserbaidschans noch keine Stellung gezogen. Die Medien in Aserbaidschan spekulieren jedoch, dass Startpunkt beider Raketen in der armenischen Stadt Gjumri (nahe der türkischen Grenze) liegt. Dort ist nämlich die 102. Russische Militärbasis stationiert.

Der ganze Wirbel um Iskander-Raketen zeigt, dass die geopolitischen Akteure ihre Interessen mit besonderem Nachdruck in der Region durchsetzen wollen, um die Oberhand über ihre Rivalen zu gewinnen.