Stark von Anbeginn: Zu den historischen Grundlagen der Gleichberechtigung von Mann und Frau in Aserbaidschan – Eine Bilanz

von Matthias Wolf

Über die Thematik der Gleichberechtigung von Mann und Frau wird nunmehr seit über 200 Jahren lebhaft diskutiert. In Europa ergaben sich diese Debatten fast zwangsläufig aus den politischen Umwälzungen, die einerseits der Parlamentarismus selbst, andererseits das vermehrte politisch aktive Wirken von Frauen in der Öffentlichkeit zur Folge hatte. Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Hannah Ahrendt oder Simone Weil prägten hierbei das Geschehen in Europa, indem sie sich für eine Relativierung oder gar  eine völlige Auflösung traditioneller Rollenbilder einsetzten. Heute erinnert sich die Weltöffentlichkeit, vor allem im Westen Europas, nur selten an jene Zeit, in der diese starken Frauen für ihre Überzeugungen mit viel Mut und oft auch unter Einsatz von Leib und Leben eintreten mussten. Zu sehr ist man in westlichen Breiten an eine Normalität gewöhnt, in der jeder Individualismus, ganz gleich ob von Männern oder Frauen ausgehend, erlaubt ist. Dieser Umstand jedoch lässt oftmals den europäischen Betrachter der Ansicht verfallen, die heutige Progressivität sei der Maßstab aller Dinge oder, noch steretyper ausgedrückt, eine unabänderbare Normalität. Mag dies für westliche Verhältnisse auch in den meisten Fällen zutreffen, so wird dabei oft übersehen, dass Gleichberechtigung verschiedene Formen und Facetten haben kann. Dies bedeutet, dass sehr wohl kulturelle Unterschiede beim Thema „Männer- und Frauenbilder“ eine Rolle spielen können, ohne dass dabei die Individualität des/der Betreffenden an sich verletzt wird. Der folgende Text soll diese kulturell spezifizierte Progressivität in Bezug auf Rollen- und Geschlechterfragen am Beispiel von Aserbaidschan und Deutschland darstellen und dabei anhand von konkreten Beispielen aus Geschichte, Kultur und Gesellschaft illustrieren, wie Tradition, Fortschritt und individueller Charakter eines jeden Menschen miteinander verwoben sein können.

Zu Beginn der Betrachtungen muss festgestellt werden, dass im heutigen Aserbaidschan die Gleichberechtigung von Männern und Frauen durch die Verfassung gesetzlich verbrieft ist. Dies bedeutet, dass Frauen wie Männern gleichermaßen das Recht auf Bildung, das Ergreifen eines Berufes und die Möglichkeit sowohl aktiver, als auch passiver  politischer Betätigung zukommt.  Diese Teilbereiche einer individuellen Lebensgestaltung sind umso wichtiger, als sie nicht das Produkt einer modernen oder gar post-modernen Gesellschaft sind, sondern vielmehr seit Beginn der republikanischen Staatlichkeit Aserbaidschans (1918) eine greifbare Realität darstellten. Dabei ist überdies hervor zu heben, dass es sich seinerzeit bei der damaligen ersten unabhängigen Republik Aserbaidschan um einen (dem Bekenntnis nach) islamisch geprägten Staat handelte. Letzteres mag prinzipiell auch heute noch auf das Land zutreffen, jedoch entspricht die Intensität der Frömmigkeit keinesfalls mehr der, die vor der Sowjetisierung im Jahre 1920 den Alltag der Menschen bestimmte. Schon damals hatten Frauen und Männer in Aserbaidschan das gleiche Recht, eine politische Wahl zu treffen oder sich wählen zu lassen. Dies war auch nicht etwa auf den  Einfluss des russischen Zarenreiches zurück zu führen, sondern wurzelte in der Idee, dass zwar klassische Rollenbilder von Mann und Frau existieren mochten, diese aber, für sich genommen, jeweils eine Form des Expertentums in verschiedenen Bereichen des täglichen sozialen Miteinanders repräsentierten. So kamen z.B. Frauen oftmals in sozialen oder medizinischen Berufen unter, während Männer sich beim Militär oder im Handwerk eine berufliche Perspektive erschlossen. Diese Entwicklung sorgte insgesamt dafür, dass Aserbaidschan schon vor seinem Übergang in ein sowjetisches System als modern und fortschrittlich galt und dabei auch europäische Länder in den Schatten stellte.

Zwei Beispiele hierfür sind Deutschland und Frankreich. Dort nämlich waren das Wahlrecht  sowie das Recht auf höhere Bildung bzw. auf das Ergreifen eines Berufes oft mit zahlreichen Hindernissen für die Frau belegt. Ein Wahlrecht für Frauen kam in Deutschland erst  nach dem Ersten Weltkrieg (ab 1919) zum Tragen. In Frankreich geschah dies sogar erst 1944. Generell war dabei auch die Rolle der Kirche von Belangen.
Da die Länder der Romania (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) katholisch geprägt waren, verhinderte oft schon der klerikale Einfluss auf die weltliche Politik einen entsprechenden Progress. Selbst die Schweiz, die heutzutage als eines der demokratischsten Länder des Westens gilt, sicherte Frauen erst 1971 ein Wahlrecht zu. Mag man über die gesellschaftlichen Ursachen solch einer verspäteten Wende im Bezug auf Frauenrechte diskutieren, so steht doch fest, dass sich in vielen europäischen Ländern die Idee einer unterwürfigen Frau sogar bis nach dem Zweiten Weltkrieg hartnäckig hielt. In Aserbaidschan indessen war dem, zumindest, was die gesetzlichen Grundlagen anbelangt, nicht so.

Eine zweite historische Station auf dem Wege der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Aserbaidschan war die Sowjetzeit. Hier zeigten sich, abgesehen von einer Forderung nach politischer Betätigung in Bezug auf Aktivisten- oder Gremientätigkeit, auch die ersten Einschnitte in das private Leben von Männern und Frauen. Denn während gerade in ländlichen Gegenden das Rollenbild einer Hausfrau und des männlichen Alleinverdieners ausgeprägt war, verlor diese Konstellation nun zusehends an Bedeutung. Auch in den Dörfern und Kleinstädten wurden Frauen Teil der Agrar- und Produktionsgesellschaft. In Fabriken und Kolchosen wurden sie Teil der arbeitenden Bevölkerung, was nicht immer ohne familiäre oder ideelle Konflikte verlief. Denn während in großen Städten wie Baku und Ganja eine gewisse Modernität schnell Einzug gehalten hatte, tat sich ein Teil der Landbevölkerung schwer damit, dass Frauen  nun auch die Wahl hatten, den traditionellen Weg von Heirat und  Gründung einer Familie zu verlassen und sich stattdessen einem Beruf mit eigenen Karrierechancen zu widmen. Hierzu sei aber gesagt, dass die meisten Frauen genau diese Art von Wahl nie zu treffen geneigt waren. Denn selbst wenn Männer und Frauen gleichermaßen eine Schule besuchten, danach ein Studium oder eine Ausbildung begannen und nach Abschluss derselben einen Beruf ausübten, so blieb das Ideal eines gesicherten Familienlebens doch vielfach bestehen. Dass eine Wahl zwischen „Familie oder Beruf“ auch meist nicht getroffen werden musste, war dem sowjetischen Schul- und Betreuungssystem zu verdanken. Dieses sorgte dafür, dass die Kinder tagsüber Aufsicht, Pflege und eine altersgerechte Beschulung erhielten. 

An dieser Stelle fällt nun der Vergleich mit Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern nicht unbedingt positiv aus. Denn zumidest in Westdeutschland war die Freiheit einer Frau im Bezug auf das Arbeitsleben bis ins Jahr 1973 stark eingeschränkt. In der Ehe musste der männliche Partner nämlich offiziell die Zustimmung zur beruflichen Betätigung seiner Frau erteilen, was nicht selten unterblieb. Denn viele Ehemänner erbaten sich nach ihrem Arbeitstag einen geordneten Haushalt und leibliche Versorgung. Außerdem war eine zu große Unabhängigkeit der Frau durch eigenes Einkommen unerwünscht.  Während in der DDR, ähnlich wie der UDSSR, Frauen in die Wirtschaft als Arbeitskräfte integriert waren, hatte man in Westdeutschland auf politischer Ebene  in den 1960er-Jahren die Aussage salonfähig gemacht, dass Frauen, sofern sie einer geregelten bezahlten Arbeit nachgehen, das gesamte Lohnniveau senken würden. Dies veranlasste viele Frauen in der Alt-BRD dazu, zu Hause zu bleiben und sich ausschließlich der Versorgung des Haushaltes und der Kindererziehung zu widmen. In manchen Fällen hatten diese Hausfrauen nicht einmal einen Beruf erlernt, sodass im Falle einer Scheidung oder bei Arbeitsplatzverlust des Ehemannes die wirtschaftliche Situation einer Familie äußerst prekär werden konnte.

Aktuell haben indessen alle Frauen im heutigen Deutschland und in Aserbaidschan potentiell die Freiheit, sich für ein Leben als Werktätige und/oder als Hausfrau und Mutter zu entscheiden. Hierbei sind traditionelle Rollenmuster kaum noch maßgebend. Meist ist eher der wirtschaftliche Faktor von Bedeutung. Dies ist jedoch tatsächlich eher der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik in den jeweiligen Branchen geschuldet. Was allerdings die Familienplanung neben dem Beruf angeht, so fühlen sich deutsche Frauen meist eher dem beruflichen Werdegang verpflichtet. Hierbei spielt auch die Angst vor der ökonomischen Absicherung eines oder mehrerer Kinder eine Rolle. Diese Angst ist unter aserbaidschanischen Frauen, die in solchen Belangen oft selbstbewusster auftreten, weniger ausgeprägt. Selbst für junge Frauen, die in der westlichen Diaspora und damit fern des Heimatlandes und ihrer Familie leben, lässt sich feststellen, dass sie wesentlich zielstrebiger nach Alternativen suchen, um Arbeit, Familie und Kinderbetreuung zu gewährleisten. Dass dabei struktuelle Probleme wie Platzmangel in Kindertagesstätten oder (gerade zu Beginn des Aufenthalts im Ausland) nicht ausreichende Sprachbeherrschung ein  Hindernis darstellen können, ist offensichtlich. Ferner muss auch dabei relativiert werden, dass auch deutsche Frauen im Punkt  „Doppelbelastung“ resistenter geworden sind.  Jedoch muss dabei auch auf die Mentalitätsunterschiede und die bestehenden Familienstrukturen hingewiesen werden.


Denn während in Aserbaidschan Familien oftmals näher beieinander leben, entkoppeln sich junge Menschen in Deutschland schneller von ihren Eltern und ziehen (aufgrund der Arbeitssituation) weiter weg von ihrem ursprünglichen Heimatort. Das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkelkindern wird dadurch sporadischer, sodass erstere auch nicht immer für eine Betreuung der Kinder zur Verfügung stehen. Aserbaidschanische Frauen in der Diaspora müssen mitunter ähnliche Probleme bewältigen. Wie sich die Lösungswege dabei gestalten, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Insgesamt lässt sich bei diesem Thema allerdings beobachten, dass junge deutsche  Frauen heute eher wieder zu einer traditionellen Rollenverteilung hintendieren, während Aserbaidschanerinnen oftmals sehr auf eine gewisse Autarkie gegenüber den Männern in der Familie achten. Dies tut jedoch der gegenseitigen Zuneigung und dem wechselseitigen Gefühl von Verantwortung und Zusammenhalt keinen Abbruch.

Beim Thema „schulische und hochschulische Bildung“ verlaufen die Entwicklungen bis heute ähnlich. Schon während der Zarenzeit hatte es in Baku Mädchenschulen und Mädchenlyzeen (Gymnasien) gegeben. Diese folgten noch, wie zu jener Zeit in Deutschland auch, dem Prinzip der Geschlechtertrennung. Wer glaubt, dass es sich hierbei um ein Charakteristikum islamischer Bildungskultur handelt, der irrt. Denn auch in Deutschland war es bis nach 1945 üblich, die  Geschlechter während der Schulzeit getrennt zu unterrichten. Formen einer gemeinschaftlichen Beschulung wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg üblich. In  Aserbaidschan war dies ebenso, wobei aber auch hier die Einschränkung gemacht werden muss, dass Traditionalität und  Tugendhaftigkeit bezüglich weiblichen Verhaltens auch in den 1950er und 1960er-Jahren stärker  beobachtet und eingefordert wurden, als in vormals christlich geprägten Republiken wie der Ukraine oder Russland. Dies hing auch wieder von einem städtischen oder ländlichen Kontext sowie der Einstellung der jeweiligen Familie ab. Dennoch dürfte die Tatsache, dass Mitte der 1950er-Jahre fast alle sowjetischen Schulen keine Geschlechtertrennung mehr praktizierten, manche aserbaidschanischen Eltern befremdet haben. Dies änderte sich erst  Mitte  der 1960er-Jahre als ein autarkes Frauenbild jenseits der Tradition durch Medien und Musik größere Verbreitung fand.  Unbestreitbar bleibt jedoch, dass das Bildungsideal bzw. das Bestreben, einen gut angesehenen Beruf zu ergreifen, in Aserbaidschan sowohl auf Jungen als auch auf Mädchen angewendet wurde. Hinzu kamen später auch Ausbildungen in Sportarten (z.B. Tanz, Judo, Leichtathletik, Schach) oder das Erlernen von Musikinstrumenten (Klavier, Garmon, Tar, Gesang). Diese Wege einer außerschulischen Kompetenzförderung standen und stehen bis heute beiden Geschlechtern ohne Einschränkung offen.

Abschließend lässt sich nun bezüglich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Aserbaidschan und Deutschland die Aussage treffen, dass heutzutage grundsätzlich in beiden Gesellschaften eine gesetzlich verankerte Gleichheit in Bezug auf verschiedene Befugnisse   in Bildung, Arbeitsmarkt und politischer Betätigung erreicht worden ist. In beiden Ländern genießen Frauen ein aktives und passives Wahlrecht,  verfügen über die Möglichkeit der Teilhabe an (hoch-) schulischen und außerschulischen Bildungsangeboten und besitzen das Recht, einer geregelten bezahlten Arbeit nachzugehen. Dennoch existieren, gerade in letzterer Sparte Ungleichheiten in Bezug auf Löhne und die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Diese werden durch eine profitorientierte Wirtschaftsordnung verursacht und schmälern damit die Achtung vor der Lebensleistung vieler Frauen in beiden Ländern. Was indes die politische Beteiligung angeht, zeigt sich Aserbaidschan weit progressiver als Deutschland. Darüber täuschen auch Diskussionen über einen modernen Feminismus nicht hinweg. Diese erfassen oft Fragen und Probleme sozialer Ungleichheit nur unzureichend und widmen sich stattdessen Fragen des Lebensstils, die mitunter ihrerseits mit der gesellschaftlichen Realität einer Mehrheit kaum noch etwas zu tun haben. In Aserbaidschan gibt es solche Debatten offenbar nicht. Doch selbst wenn dort eines Tages wieder Diskussionen um die Rechte von Männern und Frauen nötig würden, wären diese sicherlich an der Prämisse eines gesellschaftlichen Konsens und dem daraus erwachsenden Zusammenhalt der Menschen untereinander orientiert. In diesem Punkt sollte sich Deutschland (wie andere westliche Länder auch) wieder mehr der Tatsache bewusst werden, dass Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ein Element des sozialen Friedens und nicht des inner-gesellschaftlichen Wettbewerbs von Interessengruppen sein sollte.