Sinneswandel oder verschämter Rückzug? – Kommentar zum BBC-Interview mit Gerard Libaridian

BBC

von Matthias Wolf

In der Frage um die Zugehörigkeit der Region Bergkarabach zu Aserbaidschan sind bereits viele Diskussionen und Kontroversen geführt worden. Diese waren nicht immer von der notwendigen historiographischen Sorgfalt,  der diplomatischen Umsicht oder der sachlichen Kompetenz getragen, wie es sich wohl viele Kreise in der Politik, in erster Linie aber die Betroffenen beider Seiten gewünscht hätten. Auch in persönlichen Gesprächen mit Aserbaidschanern war für meine Begriffe mit der Zeit eine Entwicklung auszumachen, die anzudeuten schien, dass eine Zuspitzung des Konflikts wahrscheinlich, eine Aufrechterhaltung diplomatischer Codes schwierig oder, wie sich später herausstellen sollte, eine friedliche Lösung der Streitigkeiten unmöglich werden würde. Auch ich, der ich mich seit Jahren mit Aserbaidschan  und damit seiner Geschichte und Kultur auseinandersetze, musste feststellen, dass auch Langmut, Geduld und Friedenswille irgendwann erschöpft sein können, wenn es darum geht, dass jahrzehntelang Gerechtigkeit für ein Volk eingefordert, diesem Anliegen dann auch noch international stattgegeben wird, danach aber kein Resultat sichtbar ist, das den tatsächlichen Erfolg der Betroffenen belegen kann.

Im Klartext: Aserbaidschan war und ist im Recht, was die Zugehörigkeit von Karabach zu diesem Land angeht. Doch genau hier liegt eben das Problem. Wenn nämlich immer wieder betont wird, dass Karabach völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, gleichzeitig, aber nichts von internationaler Seite geschieht, um eine widerrechtliche armenische Okkupation dieses Gebietes zu beenden, dann muss man sich auch über eine militärische Option zur Konfliktlösung im Klaren sein. Dies bringe ich exakt so zum Ausdruck, da ich beide Seiten als Akteure, Gesprächspartner und Demonstranten erlebt habe und damit folgende Eindrücke einleitend festhalte:

Von Aserbaidschan war stets eine diplomatische Haltung auf politischer Ebene zu erkennen. Präsident Ilham Aliyev machte auf mich nicht im geringsten den Eindruck eines Cholerikers, der um jeden Preis machtpolitische Ziele durchsetzen wollte. Im Gegenteil, schien es ihm eher um die Durchsetzung eines nationalen Ziels , nämlich um die Wahrung der territorialen Integrität, zu gehen. Wer schlussendlich auf aserbaidschanischem Territorium (in Karabach) leben sollte, war dabei weder in ethnischer, noch in religiöser Hinsicht von Belangen.

Ganz anders jedoch stellt sich das Bild auf armenischer Seite dar. Hier hat es zunächst einmal einen politischen Personalwechsel im Amt des Premierministers gegeben. Serge Sargisjan wurde durch Nikol Pashinyan abgelöst und eben letzterer erwies sich als ein Ultra-Nationalist, der,anders als sein Vorgänger, noch nicht einmal davor zurückschreckte, Russland als den engsten Verbündeten Armeniens diplomatisch und in Teilen innen- und außenpolitisch zu verprellen. Dies geschah durch mediale Kampagnen gegen Russland in Armenien selbst, durch außenpolitische Doppelspiele mit der EU und Russland, die man beide offenbar, armenischen Interessen zum Vorteil, gegeneinander ausspielen wollte oder gar auf militärischer Ebene, indem das armenische Militär eine Mittelstreckenrakete auf die Stadt Ganja abfeuerte. Diese liegt ihrerseits 70 km von der damaligen Frontlinie entfernt und  gehört somit einwandfrei zum Territorium Aserbaidschans. Das Kalkül bestand darin, dass man erwartete, Aserbaidschan würde auf rein armenisches Gebiet zurückfeuern. Dies wiederum hätte den Bündnisfall mit Russland ausgelöst, das sich somit noch aktiv gegen Aserbaidschan hätte stellen müssen.

Auch auf persönlicher Ebene waren die Eindrücke in Gesprächen mit beiden Seiten ganz ähnlich wie auf der großen Bühne der internationalen Politik: Während Aserbaidschaner zu einer Diskussion oder zu einem sachlichen Gespräch bereit waren, hatten armenische Bürger oftmals ein Problem damit, überhaupt die Möglichkeit zu erwägen, dass ihre Regierung mit einem Angriff bzw. einer Besetzung der Gebiete in Karabach gegen internationales Recht verstieß.

Glücklicherweise gab und gibt es aber auch gegenteilige Meinungen aus Armenien, die sehr wohl von einem deutlichen Unrechtsbewusstsein zeugen, jedoch auch kritisch und differenziert betrachtet werden müssen, wie die folgende Analyse zeigt.

In einem Interview mit dem BBC (russische Ausgabe) sprach Gerard Jirair Liparityan, der seinerzeit als leitender Berater des ersten Präsidenten von Armenien Levon Ter-Petrosyan tätig gewesen war und nun die Politik Armeniens in der Rückschau sowie die Rolle der beiden aktuellen Staatsoberhäupter Ilham Aliyev (Aserbaidschan) und Nikol Pashinyan (Armenien) charakterisiert. Hierbei stellt er schon zu Eingang des Interviews einen Kernfehler der armenischen Führung ingsgesamt fest, nämlich, dass mit einer Maximalforderung in den Verhandlungsprozess eingestiegen wurde.Diese Maximalforderung lautete: „Karabach ist Armenien-Punkt.“ Mal ganz davon abgesehen, dass dies auf diplomatischer Ebene keine gute Basis für Verhandlungen ist, die ihrerseits auch nicht an einem Tag abgeschlossen werden können, zeigt es den Chauvinismus, mit dem die armenische Führung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre nationalen Ziele zu verwirklichen gedachte.

Hierzu passt auch die Tatsache, dass, anders als in Aserbaidschan, wo ethnische und religiöse Vielfalt auch Teil der offiziellen Staatsräson und des Öffnungsprozesses nach Westen hin darstellen, Armenien die Begriffe „Selbstachtung“ und „Selbstüberhöhung“ nicht auseinander zu halten imstande war. Denn während in Aserbaidschan weiterhin auch Russen, Ukrainer, Deutsche und einige persische Ethnien friedlich leben dürfen, ist Armenien ethnisch und kulturell nahezu homogen. Dies ist vor allem auf Vertreibungen in den 1990er-Jahren zurück zu führen, die offensichtlich äußerer Ausdruck einer „nationalen Wiedergeburt“ sein sollten. Dieser Trend einer „Stärke durch Homogenität“ setzt sich auch heute noch insofern fort, als dass zwar immer wieder auf das „christliche Erbe“ Armeniens rekurriert wird, niemals aber auf die Tatsache, dass auch in Armenien während der Sowjetzeit Menschen mehrerer Ethnien und Religionen ein Zuhause hatten. Was genau dies über den Willen zur Völkerverständigung oder zu wahrhaftig gelebter Nächstenliebe aussagt,  mag jeder Beobachter für sich entscheiden.    

Im Falle von Ter-Petrosyan und Pashinyan kommt Liparityan zu einem eindeutigen Ergebnis: Ersterer setzte auf Frieden , letzterer eindeutig auf Krieg. So könnte man davon ausgehen, dass es durchaus Chancen zu einer friedlichen Einigung zwischen Aserbaidschan und Armenien gegeben hat. Doch leider waren diese offenbar nur im Falle der Regierung unter Präsident Ter-Petrosyan  vorhanden. Denn nicht nur Pashinyan, sondern auch seine Amtsvorgänger hielten an einer Maxime der Kompromisslosigkeit fest, sodass auch Krieg als legitimes Mittel zur Durchsetzung der nationalen Ziele einkalkuliert wurde. In diesem Zusammenhang muss man auch die immer wiederkehrenden Verletzungen der Waffenruhe nennen, die in der Mehrheit der Fälle von Armenien ausgingen. Doch auch Liparityan ist an der psychologischen Wegbereitung zu einer militärischen Auseinandersetzung durchaus nicht unbeteiligt gewesen, wie er selbst einräumt.

Im Jahre 1992 nämlich, nahmen armenische Truppen die Stadt Lachin ein. Danach erging aus Jerewan  das Versprechen an Aserbaidschan, dieses Gebiet gegen Sicherheitsgarantien „zurück zu geben“. Robert Kotscharian,  der damalige „Vorsitzende des staatlichen Verteidigungskomitees“, beauftragte daraufhin Liparityan, eine offizielle Erklärung hierzu zu verfassen. Als es dann jedoch tatsächlich zu Verhandlungen kam, kristallisierte sich eine Position heraus, die zu bedeuten schien: „Wir können sie (die Gebiete) nicht zurück geben, weil sie armenisch sind.“ Ob diese Aussage tatsächlich von Liparityan intendiert war oder nicht, wird im Interview nicht klargestellt. Fest steht allerdings, dass auch hier wieder eine Chance zur gütlichen Einigung zwischen beiden Ländern verspielt worden ist. 

Heute befinden sich indessen Lachin und die umliegenden Gemeinden wieder in der Hand Aserbaidschans. Auch der Korridor von Lachin, eine Hauptverkehrsstraße zwischen Aserbaidschan und Armenien war im Zuge dieser Rückgabe Teil politischer Diskussionen. Der Vorschlag,  diesen Verkehrsweg als eine „Straße des Friedens“ einzuweihen, die von Bewohnern beider Staaten unbehelligt befahren werden sollte, kam von der aserbaidschanischen Regierung. Wie die armenische Führung auf den Vorschlag reagierte oder, ob sie ihn lediglich inhaltlich „zur Kenntnis nahm“, darüber geben westliche Leitmedien leider keine Auskunft. Aber auch hier sieht man deutlich, wie wenig Armenien gegenüber Aserbaidschan zur Kommunikation bereit war.  

Im weiteren Verlauf des Textes wird auch noch auf eine weitere Dimension eingegangen, die nur allzu deutlich  offenbart, wie wenig die armenische Führung eigentlich Volksinteressen vertritt. Denn grundsätzlich liegt im Interesse eines Volkes nicht, seine jungen Menschen im Krieg zu verlieren und damit ein Land, das ohnehin wirtschaftlich nicht allzu gut dasteht, noch zusätzlich im wahrsten Sinne des Wortes „auszubluten“. Insofern hätte eigentlich, wie Liparityan korrekterweise anführt, erkannt werden müssen, dass Aserbaidschan an Stärke gewinnen und damit ein Krieg sinnlos sein würde. Doch offenbar war hier das Gegenteil der Fall. Krieg wurde als etwas, das „Spaß macht“ deklariert. Somit starben vermutlich tausende junge Männer sinnlos und noch dazu in einem Krieg, der aus armenischer Sicht auch nur als ungrechtfertigt gelten kann. Hierzu passt auch, dass es besonders in den letzten Tagen der bewaffneten Auseinandersetzungen Proteste junger Leute in Jeriwan gab. Dabei ging es den Jugendlichen hauptsächlich darum, deutlich zu machen, dass sie nicht mehr bereit waren, sich in einem sinnlosen und quasi bereits verlorenen Krieg „verheizen“ zu lassen. Während und nach der kriegerischen Auseinandersetzung mit Aserbaidschan tat sich Armenien außerdem schwer damit , Verluste zu beziffern und somit genaue Zahlen zu Toten und Verletzten zu veröffentlichen. Aserbaidschan hatte dies getan und durchaus mehrfach seinen gefallenen Soldaten Ehre sowie den betroffenen Familien Mitgefühl erwiesen. Aus Armenien wurden derlei offizielle Bekundungen kaum nach außen hin bekannt. 

Als einen letzten Blickwinkel möchte ich noch die „internationale Sichtweise“ über den Konflikt anführen. Diese beruft sich im Wesentlichen auf die „territoriale Integrität“ Aserbaidschans und damit auf dem Umstand, dass bestehende Grenzen nicht einfach mittels eines Angriffskrieges und ohne Befragung der jeweils dort lebenden Menschen verschoben werden dürfen. Demnach ist der Angriff auf Karabach von armenischer Seite, bzw. die Stationierung armenischer Soldaten in den betreffenden Gebieten schon seit Beginn der 1990er-Jahre völkerrechtswidrig gewesen. Denn seit 1992 ergingen vier UN-Resolutionen, die eindeutig festlegen, dass Karabach Teil Aserbaidschans ist. Auf dieser Basis begründet sich auch das offizielle Auftreten der aserbaidschanischen Regierung, die sich von Anfang an auf geltendes internationales Recht berufen hat. Letztere Tatsache wurde aber von armenischer Seite konsequent ignoriert und stattdessen durch zahlreiche äußerst fragwürdige historische Argumentationen ersetzt. Liparityan räumt genau dies ein und bezeichnet diese Sichtweise auch als fehlerhaft. Es seien „unnötige Provokationen“ gegenüber Aserbaidschan und auch der Türkei ausgesprochen worden, die, anstatt die Situation zu deeskalieren, zu einer Verschärfung des Konflikts geführt hätten. Doch wie schon eingangs erwähnt, verwundert es den aufmerksamen Beobachter umso mehr, dass die internationale Gemeinschaft nicht schon früher Armenien diplomatisch in seine Schranken gewiesen hat. Dies hätte spätestens nach dem „Massaker von Xocali“ im Februar 1992 passieren müssen, als armenische Truppen in besagter Kleinstadt über 600 Zivilisten (unter ihnen meist Frauen, Kinder und Alte) grundlos ermordeten. Doch mag die internationale Gemeinschaft damals auch die Augen vor diesen unschuldigen Opfern verschlossen haben, das aserbaidschanische Volk und die dortigen politisch Verantwortlichen haben sie nicht vergessen.

Abschließend komme ich zu dem Ergebnis, dass Liparityan zwar durchaus Einsicht zeigt, was die damaligen Fehler der armenischen Politik zu diesem Thema anging, aber gleichzeitig nicht von persönlicher Verantwortung freizusprechen ist. In der Funktion eines politischen Beraters, bzw. eines Verfassers politischer Erklärungen für die jeweiligen Politiker, hätte er sofort reagieren müssen, als die Botschaft der offiziellen Erklärung (zu den Verhandlungen um Lachin) in eine pro-armenische und damit kompromisslose Richtung abdriftete. Aserbaidschan indessen blieb nichts anderes übrig, als militärische Mittel zur Lösung des Konfliktes einzusetzen. Letztere sind, da nicht auf fremdem Territorium angewendet , durch internationales Recht legitimiert. Armenien kann daraus, meiner Ansicht nach, nur die Lehre ziehen, dass Kompromisslosigkeit, gepaart mit reaktionärem Chauvinismus, niemals eine Basis für politische Verhandlungen und schon gar nicht für die Gestaltung eines Befriedungsprozesses sein kann. Krieg als ein letztes Mittel der Politik zur Durchsetzung nationaler Interessen kann auch keine Antwort auf territoriale Fragen sein, schon gar nicht, wenn Angehörige beider Ethnien seit Generationen in einem Gebiet gelebt haben und der Anspruch auf „Heimat“ in beiden Fällen als legitimiert erscheint. Ich glaube in diesem Zusammenhang auch nicht, dass in Aserbaidschan irgendjemand etwas gegen Armenier hätte, die als Bürger Aserbaidschans friedlich in selbigem Lande leben wollten. Aber sehr wohl hat jemand etwas gegen Mitbürger, deren Hass so groß ist, dass er den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstört und schlimmstenfalls zu bewaffneten Auseinandersetzungen auf engstem Raum führt. Insofern muss es auch nicht verwundern, dass manche armenischstämmigen Bürger in Karabach auf einen Sieg der aserbaidschanischen Streitkräfte warteten. Diesen Menschen war mit Sicherheit, neben einem wieder normal laufenden Alltag und ungeachtet jeder Ethnie und Religion, nur eines wichtig: Der Frieden vor der eigenen Haustür.