Niederlagen können als Anreiz für zukünftige Entwicklungen dienen, um mythische Vorstellungen (etwa die Legende eines sich vom Meer zu Meer erstreckenden Großarmeniens) und nationalistische Ideologien, die seit Jahrzehnten als Schutzschild in den Köpfen hängen geblieben sind, loszuwerden oder diese neu zu interpretieren.
Arman Grigoryan, Politikwissenschaftler und Dozent an der Lehigh Universität in Pennsylvania zeigt sich insofern pessimistisch. Ihm zufolge wird die armenische Gesellschaft selbst nach dem militärischen Debakel, das Armenien in der jüngsten Eskalation mit Aserbaidschan erlitten hat, weiterhin die Zeit und Ressourcen dafür verschwenden, an Mythen zu glauben. Er ist überzeugt, der armenische Neokonservatismus und die Idee des “Armenientums” hätten alle intellektuellen Schichten des Landes durchgedrungen. Für Viele, selbst in den höchsten Machtkreisen, bestünde die Wirklichkeit aus einer Knetmasse, die man je nach Bedürfnis in gewünschte Form bringen kann. Laut Grigoryan sind die meisten Medien Armeniens nicht willens, ernsthaft und pflichtbewusst zu agieren. Sie schüfen vielmehr Kakophonie, in der wichtige Stimmen unterdrückt würden. Nationalistische Gesinnung, kompromisslose und mitleiderregende Sprache seien bei öffentlichen Auftritten immer gefragt.
Welche konkrete Rolle übernehmen die Medien, um diese Überlieferungen zu verbreiten? Tatsache ist: Unsere Pressevertreter erfüllen ihre Funktion nicht. Wenn wir diesen Prozess durch das Prisma des Marktmodells betrachten, stellen wir fest, dass es in den Medien am notwendigen Wettbewerb für Ideengenerierung mangelt. Die Berichterstattung sei im Großen und Ganzen verzerrt, monopolisiert und würde eine entscheidende Rolle bei der Förderung der nationalistischen Mythologie spielen. TV-Nachrichten in Armenien würden sich nach der Abschaltung des privaten Infoportals A1+ in den 2000-er Jahren einer besonders starken Kontrolle unterliegen. Seitdem sähe die armenische Medienlandschaft ihre Hauptaufgabe darin, die seit Jahrhunderten gepflegten Erzählungen am Leben zu halten.
Doch was sind die Hauptmythen, mit denen wir heute noch zu kämpfen haben? Dazu zählen unter anderem die historisch begründete Philosophie des armenischen Revanchismus, die von Garegin Nschdeh entwickelte Ideologie des Zegakronismus (ein ultranationalistisch-faschistisches Dogma aus den 1930-er Jahren) und der Grundsatz „keinen Zentimeter dem Feind“ (gemeint sind die besetzten Territorien in Bergkarabach).
„Was meine ich mit dem Begriff Mythos“? Beispiel: Die Wiederherstellung der armenischen Souveränität über das gesamte Gebiet des historischen Armeniens. Jedem hellen Kopf in Armenien muss klar sein, dass es in diesem Punkt eine große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. Es hat einfach keine Chance, jemals Realität zu werden. Dennoch findet sich bei uns eine ganze Reihe von Journalisten, die sich dafür einsetzen. Sie verweisen auf die historische Gerechtigkeit und versuchen sich und ihr Umfeld von der politischen Bedeutung dieser Mission zu überzeugen. Leichtgläubig vertreten diese die Auffassung, dass die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch immer mehr Staaten die Rückkehr der Armenier in die ehemals armenisch besiedelten Gebiete erleichtern würde. Diesen Beteuerungen zufolge hätten der Vertrag von Sèvres (1920) und Schiedsspruch von Woodrow Wilson (Selbstbestimmungsrecht der Völker) ihre Rechtskraft nicht verloren. Im Gegenteil könnten diese immer noch als Waffe benutzt werden, um die Rechte der Armenier in diesen Territorien anzuerkennen. Zudem pocht man auf der Annulierung des Vertrages von Kars (1921) zwischen der Türkei und Sowjetrussland.
Die Befürworter der Maxime “Keinen Zentimeter Land dem Feind” haben den breiten Massen jahrzehntelang den Unsinn über die “Schwarzseherei” und den “Sieg” propagiert. Sie behaupten, Sieg oder Niederlage hängen einzig und allein von eigenen Intentionen ab. Die Bürgerinnen und Bürger wurden indoktriniert, Armenien habe eine kampfbereite Armee, Aserbaidschaner seien dumm und die Russen würden uns beim Kriegsfall bedingungslos unter die Arme greifen. Mit anderen Worten haben Sie ein aus Wünschen und Vorurteilen bestehendes illusorisches Bild kreiert. Die Realität aber rächt sich immer, wenn man sie mit Verachtung behandelt. Von dieser Realität wurden wir in der Zeit vom 27. September bis 9. November 2020 eingeholt. Die bisherigen Debatten zum Thema Bergkarabach, die dem oben erwähnten Mythos zuwiederliefen, wurden aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt.
Die vorherrschenden dogmatischen Wunschgedanken in Armenien zeichnen sich dadurch aus, dass rationale Argumente oft vom metaphysischen Aufschrei blockiert werden, der weder widerlegt noch bestritten werden kann. Wenn man etwa versucht einem überzeugten Patrioten zu erklären, dass die Umsetzung der hochfliegenden Ansprüche des Landes mit seinem vorhandenen Potential nicht vereinbar ist, erwidert dieser mit dem Zitat von Garegin Nschdeh, wonach derjenige siegreich sei, der den Glauben an Sieg bis zum nächsten Morgen in sich trägt. Versuchen Sie nun eine Person, die glaubt, mit Lärm und Wut lasse sich irgendetwas erreichen, von der Sinn- und Zwecklosigkeit ihrer Denkweise zu überzeugen. Nur wenige Tage nach der Beendigung der jüngsten Kampfhandlungen in Bergkarabach schwadronierte einer unserer herausragenden “Politikwissenschaftler” über eine epische Legende, die der armensiche Soldat im Krieg geschaffen hätte. Hätte er trotz Niederlage das Gegenteil behaupten können? Nein! Unser gesamter politischer Diskurs ist vom pathetischen Schwachsinn dieser Art geprägt, der sich wiederum jedem rationalen Aspekt in der öffentlichen Debatte in den Weg stellt. Einige wenige, die sich gegen diesen Nonsens widersetzen, werden als Volksverräter oder als Judenverschwörer gebrandmarkt. In dieser erbärmlichen intellektuellen Atmosphäre werden entweder Oden an die Nation geschrieben oder pseudokünstlerische Wettbewerbe abgehalten, um das Zugehörigkeitsgefühl zum “Armenientum” unter Beweis zu stellen. Vernünftiges Denken und Argumentieren sind in Armenien Fremdbegriffe und schöpfen sofort Verdacht. Die Aufrufe, der Realität nicht mit Verachtung zu begegnen, werden ebenfalls argwöhnisch beäugt.
Das Verlangen an sich ist ein politisches Instrument. Sie müssen ja einen Traum haben, um ihn später Wirklichkeit werden zu lassen. Auch eine Gesellschaft sollte Ansprüche haben. Doch wenn die Bindung zwischen dem Begehren und der Wirklichkeit fehlt, erweisen sich die gesellschaftlichen Diskurse als völlig unnötig und können nicht mehr ernst genommen werden. Es wäre viel besser und hilfreicher, wenn wir unsere Träume darauf ausrichten würden, Armenien in ein blühendes Land der Wissenschaft, Technologie und Kunst zu verwandeln. Die Rachegedanken sind nicht gesund, zumal unser Land zu deren Implementierung nicht im Stande ist. Die beste Revanche an der Geschichte sollte es sein, deren Logik zu ändern.
Lassen Sie mich an der Stelle noch eine Dimension hervorheben. Die ideologische und kulturelle Atmosphäre stellt keinen intellektuellen oder psychologischen Komponenten eines gewissen Narrativs dar. Diese ist in bestimmten Interessensgruppen Armeniens verwurzelt. Das ökonomische Wohlergehen dieser Schicht hängt unmittelbar von der Stabilität und Überlebensdauer der stets propagierten Erzählungen ab. Mit anderen Worten: Mit armenischer Frage lässt sich ein Geschäft machen. Weil dieses Geschäft Produkte von sehr geringer Qualität produziert, kann sein Überleben nur in Abwesenheit eines Wettbewerbs sichergestellt werden. Deshalb sind sie intolerant und gehen rigoros gegen jegliche Form von Dissens und Wettbewerb vor.
Niederlagen sind für Staaten und Gesellschaften tragisch und ernüchternd. Doch sie bieten gleichzeitig eine Chance, die verkrusteten nationalen Träume neu zu definieren. Sie schöpfen Hoffnungen und geben eine neue Richtung, Annahmen, die mit zeitgenössischen Gegebenheiten nicht mehr mitzuhalten sind, zu verwerfen und neue realistische Ideen zu entwickeln.
P.S. Das englischsprachige Interview erschien am 07. Dezember 2020 auf dem Onlineportal “media.am” und wurde von Nune Hakhverdyan durchgeführt.
Eine realistische und zutreffende Analyse. Ich würde gerne mit dem Autor in Verbindung treten, um auszuloten, wie wir zusammenarbeiten können. Ich hoffe, dass die Niederlage im Karabagkrieg den Anstoss für ein Umdenken in Armenien bildet. Wie ich in türkischen Medien gelesen habe, hat Paschinyan erklärt, dass Armenien bessere Beziehungen mit der Türkei und Aserbaidschan anstreben sollte. Ich finde diesen Ansatz, dessen Umsetzung sehr schwierig ist, als den ENZIG richtigen. Ich bitte Sie, meine Emailadresse an den Autor weiterzuleiten. alisoylemezoglu@gmail.com. Mein Name lautet Ali Söylemezoğlu.