von Christian Fischer
Die sich über die Jahre zusammengebrauten Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach mündeten am 27. September 2020 in einen offenen Krieg. Dieser forderte über 5000 Tote (genaue Zahlen stehen noch nicht fest) und 10.000 Verletzte auf beiden Seiten. Binnen sechs Wochen eroberte Aserbaidschan einen Großteil der im ersten Bergkarabachkrieg (1992-1994) verlorenen Territorien zurück. Die bewaffneten Handlungen sind zwar zu Ende, doch vom endgültigen Frieden scheint das Konfliktgebiet um mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entfernt zu sein. In den Territorien, die Aserbaidschan nach beinahe 30-jähriger Besatzung unter Kontrolle gebracht hat, bietet sich ein erschreckendes Bild. Ganze Ortschaften, die Armenien in all den Jahren als „Pufferzone“ besetzt hielt, gleichen einer Trümmerlandschaft. Wie kaum eine andere Stadt verkörpert dabei die Stadt Agdam die totale Zerstörungswut, die die armenische Seite nach dem ersten Karabachkrieg anrichtete. Von der einstigen Schönheit und florierenden Wirtschaft ist Agdam (Entstehungsort des berühmten sowjetischen Portweins) heutzutage nur noch ein Schatten von sich selbst. Das einzige Bild, was man in der befreiten Stadt gegenwärtig zu sehen bekommt, ist der endlose Trümmerhaufen aus halb zerfallenen Mauerresten und rostigen Armaturen von eingestürzten Wohnhäusern, den einst prächtigen Kultureinrichtungen oder Verwaltungsgebäuden. Überall ausgebrannte Autoskeletten, verrostete Tankbehälter, mit Unkraut überwucherte Häuserreste, soweit das Auge reicht.
Die vorrangige Aufgabe der aserbaidschanischen Regierung besteht in der Bergung von lebensbedrohlichen Minen und sonstigen Sprengkörpern, die die armenischen Einheiten bei ihrem Rückzug aus den zurückeroberten Gebieten hinterließen. Seit Ende November 2020 haben Experten des Internationalen Minenräumungszentrums des russischen Verteidigungsministeriums mehr als 1.200 Hektar Fläche in Berg-Karabach von nicht explodierten Sprengkörpern geräumt und dabei mehr als 24.000 Sprengfallen beseitigt. Noch schlimmer sieht es auf der anderen Seite aus. Rund 80 Prozent der Gebietsfläche von Karabach, die von Aserbaidschan kontrolliert werden, gelten als vermint. Dem offiziellen Baku steht in diesem Sinne eine lange und kostenintensive Aufgabe bevor.
Mit Beginn des Jahres 2021 gab Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev die Zukunftspläne des Landes für den Wiederaufbau zerstörter Gebiete bekannt. Als eines der ersten und zugleich größten Vorhaben soll ein neuer internationaler Flughafen in der befreiten Provinz Fuzuli entstehen. Noch im selben Jahr soll dieser in Betreib genommen werden. Ein zweiter Flughafen soll entweder in Kelbadschar oder in Lachin errichtet werden. Diese kostspieligen Projekte könnten Schätzungen zufolge bis zu 200 Millionen Manat (117,7 Millionen US-Dollar) verschlingen. Zu den ambitionierten Zielen der aserbaidschanischen Regierung beim Wiederaufbauprozess zählt auch das Konzept der Schaffung grünerer und effizienterer Städte (smart city) bzw. Dörfer (smart village). Doch ein offizielles und aus 72 Seiten bestehendes Staatsprogramm mit dem Titel “Big Recovery” aus dem Jahr 2008 macht deutlich, mit welchen Herausforderungen das Land zu kämpfen hat. Dieses dokumentiert Pläne, 751 Siedlungen auf 11.500 Quadratkilometern wieder zum Leben zu erwecken und bis zu 570.000 Menschen umzusiedeln. Eine Rückkehr in die geliebten Heimatorte in Karabach wird für viele aserbaidschanische Binnenvertriebene jedoch einige Jahre in Anspruch nehmen. Die Regierung in Baku hat bereits mit ersten Vorbereitungen begonnen. Für 2021 wurden 2,2 Mrd. Manat (ca. 1,5 Mrd. $) aus dem Staatshaushalt für den Wiederaufbau bereitgestellt. Der Prozess wird allerdings langwierig und stellt das Land vor enormen Herausforderungen. Neben staatlichen Initiativen ist die Beteiligung von ausländischen Investitionen dringend notwendig. Das Wirtschaftsklima im Land hat sich in den letzten Jahren aufgrund sinkender Ölpreise und der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise merklich verschlechtert. Die Wahrscheinlichkeit, das Land könne die Finanzierung der Projekte in zurückeroberten Provinzen aus eigener Kraft meistern, ist gering. Aserbaidschans staatlicher Ölfonds im Wert von rund 40 Milliarden Dollar wurde bisher dazu verwendet, Lücken im regulären Haushalt zu schließen. Die geschätzten Wiederherstellungskosten für die nächsten 10 Jahre werden sich auf 100 Mrd. Manat (59 Mrd. $) belaufen. Selbst für ein Land wie Aserbaidschan mit seinen reichen Energieressourcen und soliden Finanzreserven ist diese Summe gigantisch. Hier könnten die EU, UN-Organisationen und internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank, Europäische Investitionsbank oder die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung erforderliche Finanzmittel sowie ihr Fachwissen bereitstellen.
Die gesamte Region Karabach birgt ein enormes ökonomisches Potential. Es gibt einige vielversprechende Branchen, die zur regionalen Entwicklung den entscheidenden Anstoß geben könnten. Eine davon ist der Energiesektor. Allein die Solarenergieressourcen des Gebiets werden auf 3.000-4.000 und die Windenergiekapazitäten auf 300-500 Megawatt geschätzt. In den Provinzen Kelbadschar und Latschin belaufen sich die Kapazitäten von geplanten Wasserkraftwerken auf 120 MW, was wiederum darauf andeutet, dass die Region künftig auf grüne Energien setzen kann. Darüber hinaus bieten die Thermalwasserressourcen in Kelbadschar und Schuscha ebenfalls eine gute Voraussetzung für die Entwicklung grüner Energiequellen. Auch in den Bereichen Bergbau, Metallurgie, Kreativwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Strickwaren, Tourismus und Landwirtschaft öffnen sich große Chancen. Karabach ist reich an Erzmineralien – Gold, Kobalt, Kupfer, Mangan. Diese stellen die Rohstoffbasis für die Entwicklung der Nichteisenmetallurgie und für die Produktion von Mikroelektronik in Aserbaidschan dar. Natürlich fehlt es zum jetzigen Zeitpunkt an technologischer Infrastruktur und Transportrouten für die Ausbeutung der meisten Mineralien. Vor diesem Hintergrund begann Aserbaidschan zu Beginn des Jahres 2021 zügig mit den Straßenbaumaßnahmen in befreiten Territorien. Folgende Strecken werden zurzeit gebaut:
- Verbindungsstraße Ahmadbayli-Alkhanli-Fusuli-Schuscha;
- Verbindungsstraße Horadiz-Zangilan-Gubadli-Latschin. Damit wird der Grundstein eines umfassenden Straßenverkehrsnetzes im Süden und Westen Karabachs gelegt. Im Nordosten wurden nur wenige Wochen nach dem Waffenstillstandsabkommen im November 2020 die Straße von Tartar bis ins Dorf Sugowuschan errichtet.
Konstruiert werden außerdem neue Eisenbahnlinien wie etwa die Strecke von Horadiz über Fuzuli bis nach Schuscha und die Linie Horadiz-Agbend. Letztere soll in zwei Jahren in Betrieb genommen werden und als Tor zur geplanten Verbindung nach Nachitschewan dienen.
Karabach verfügt über notwendige Ressourcen und eine wirtschaftliche Anziehungskraft, um nach 30-jährigem Stillstand wieder zu auferstehen und an alte gute Zeiten anknüpfen zu können. Verschiedene Entwicklungsmechanismen können genutzt werden, lokale und ausländische Investitionen in den Wiederaufbauprozess aktiv einzubeziehen. Der Neuanfang nach dem Konflikt könnte eine wichtige Rolle im Hinblick auf die wirtschaftliche Prosperität und Konsolidierung der regionalen Stabilität spielen. Dafür müssen Aserbaidschan und Armenien gemeinsam handeln. Nur Handelsbeziehungen und öffentliche Diplomatie können zur Entmilitarisierung der krisengeschüttelten Region beitragen.
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