(Memorialschrift anlässlich des 103. Jahrestages der 1. Demokratischen Republik Aserbaidschan sowie zum Nationalfeiertag am 28.Mai 2021)
von Matthias Wolf
Die Idee eines zündenden Moments in der Geschichte eines jeden Landes, der die Entwicklung von Sprache, Denkweise und damit Kulturverständnis insgesamt nachhaltig prägt, hat in der Historie vieler Länder klare Konturen angenommen. Man ist sich darin einig, dass bestimmte Personen mit diesen Prozessen verbunden werden und dass deren Leben und Wirken nicht nur für jene Zeit ihrer eigenen physischen Existenz, sondern bis weit über ihre Epoche hinaus Folgen für die Sicht einer Nation auf sich selbst hat. Die Beispiele hierfür sind so mannigfaltig, dass bisweilen der Eindruck entsteht, man müsse kulturelle Entwicklungen eines bestimmten Raumes stereotypisieren, um noch eine gewisse Übersichtlichkeit zu wahren, die ansonsten verloren ginge. Diese Befürchtung scheint heutzutage umso angebrachter, da sich in Zeiten von Globalisierung und Entgrenzung unserer Welt sowieso eine Uniformierung sämtlicher nationalen Individualitäten in Bezug auf Architektur, Folklore, Sprache und Lebensstil ankündigt.
Doch waren solcherlei Tendenzen immer schon und eben nicht nur heutzutage Teil unserer Entwicklung. Andernfalls nämlich müsste man von Kulturalität als von einem starren, blockartigen geistigen Gebilde ausgehen, das sich weder zu entwickeln, noch zu erneuern imstande ist. Selbst eine Rückkehr zu den Ursprüngen wäre folgerichtig undenkbar, da ja niemand wissen würde, welche Phasen die jeweilige kulturelle Entwicklung eines Landes durchlaufen hat oder wo genau eigentlich die Ursprünge liegen. Doch genau diese letzteren sind es meistens, die einen Anstoß zu Erneuerung zu geben vermögen, sofern bestimmte Kreise einer Gesellschaft Fehlentwicklungen im Hier und Jetzt erkennen wollen. Die folgenden Betrachtungen sollen am Beispiel Aserbaidschans im Allgemeinen und anhand des künstlerischen Schaffens von Mikayil Müşfiq im Speziellen diese Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen Tradition, Fortschritt und politischer Repression überblicksartig darstellen. Ziel der Analyse soll es außerdem sein, das Werk und die individuelle Einstellung des Dichters zu skizzieren und am Ende zu klären, inwieweit sein Werk, seine darin vermittelten Ansichten und sein gewaltsamer Tod im Jahre 1938 sowohl während, als auch nach der sowjetischen Periode in Aserbaidschan bestimmend für die kulturschaffende Szene waren.
Zunächst ist es für die ideelle Einordnung wesentlich, festzustellen,dass Mikayil Müşfiq kein klassischer Oppositioneller des damaligen Regimes und schon gar kein typischer Gegner sozialistischer Ideen war. Dieser Dichter hatte vielmehr die wesentlichen Vorzüge eines neuen Systems außerhalb der vormals zaristischen Ständegesellschaft klar erkannt und mit ihnen auch den Nutzen für die Emanzipation Aserbaidschans insgesamt von archaischen Zwängen, die seiner Ansicht nach langfristig eine Öffnung nach außen und damit eine Teilhabe am Weltgeschehen selbst verhindert hätten. Zu diesen Vorzügen des damals noch keineswegs vollendeten neuen Systems, das Stalin in den 1920er- und 1930er Jahren zu festigen und auszubauen gedachte, zählten unter anderem die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Industrialisierung (Errichtung von Fabriken), die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen (selbige war bereits seit 1918 gesetzlich geregelt) und die Ersetzung des arabischen Zeichenalphabets durch kyrillische Buchstaben, welche, etwa im Vergleich mit der Schriftreform in der Türkei, relativ viel Zeit in Anspruch nahm.
Gerade in dieser Zeit zeigt sich deutlich der Enthusiasmus, mit dem Mikayil Müşfiq zunächst den gesellschaftlichen Wandel begrüßte, den viele Staaten der UDSSR seinerzeit erfuhren. Aserbaidschan nahm dabei aufgrund seiner reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen eine Sonderstellung ein. Letztere waren nämlich ursächlich dafür, dass, neben einer koordinierten und ertragreichen Landwirtschaft, auch Industrie in Form von Ölraffinerien, Stahlwerken oder Hoch- und Tiefbaukompanien entstehen konnte. In anderen Ländern, wie Usbekistan, Tadschikistan oder Georgien war dies bedeutend schwieriger zu realisieren, da die Bodenschätze weniger reichhaltig waren und zudem andere Naturresourcen wie verschiedene Holzarten oder Baumwolle eher eine andere Akzentsetzung begünstigten. In Aserbaidschan erfolgte außerdem bereits in den 1920er-Jahren ein Ausbau des literarischen und kulturellen Schaffenszweiges. Dieser umfasste Theater, Opern- und Schauspielhäuser und hatte bald eine solche Bedeutung und Popularität erlangt, dass diese Bühnen selbst mit den höchstdotierten Institutionen in Moskau in Konkurrenz treten konnten. Genau in diesem Bereich erschließen sich allerdings auch die Produktivität und Streitbarkeit des Künstlers.
Mikayil Müşfiq war in der frühen Phase seines Schaffens vor allem ein Verfechter des sprachlichen Brückenbaus gewesen. Er vertrat nämlich die Auffassung, dass, bei allem Fortschritt, den die neue Gesellschaftsform unter russischer Ägide bringen könne, die Muttersprache der jeweiligen Völker keinesfalls vernachlässigt werden dürfe. So übersetzte er viele Gedichte, die zuvor in russischer Sprache erschienen waren und eindeutig Loyalität zum neuen System bekundeten, ins Aserbaidschanische. Dies tat er einerseits aus dem Wunsche heraus, die Muttersprache der Aserbaidschaner zu pflegen, welche ihrerseits mit dem neuen kyrillischen Alphabet nun noch eine größere Reichweite bezüglich der Schriftform erhalten hatte, andererseits aber auch aus dem einfachen Grunde heraus, dass nicht in allen Regionen seines Landes jeder Bürger des Russischen mächtig war. Diese Übersetzungsarbeit hat, aus heutiger Sicht betrachtet, einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der aserbaidschanischen Literatursprache an sich geleistet, markiert sie doch auch eine wichtige Etappe der Veränderung des kulturellen Horizonts ihrer Sprecher.
Während nämlich, gerade in den Anfängen der ersten Republik (1918), die Schriftsprache noch sehr durch Arabismen und Persizismen charakterisiert gewesen war, die sich ja schon aus der Verwendung des perso-arabischen Alphabets ableiteten, so tendierte man nun einerseits in Richtung eines Brückenbaus zwischen dem Russischen und dem Aserbaidschanischen als Turksprache, andererseits zu einer Anlehnung an die türkische Sprachpolitik, die ihrerseits seit 1923 viele Anstrengungen unternommen hatte, das „Osmanische“ europäischer zu machen. Dabei wurden entweder verschiedentlich Lehnwörter aus dem Französischen und Deutschen übernommen oder aber arabische und persische Wörter durch Vokabular (alt-)türkischen Ursprungs ersetzt. Da Mikayil Müşfiq selbst Übersetzungen aus dem Russischen anfertigte, ist davon auszugehen, dass er sich eher für eine Anlehnung an das Russische als „Brückensprache zu Europa“ hatte erwärmen können. Doch diese These ist, trotz hoher pragmatischer Wahrscheinlichkeit in Bezug auf die Sprachverwendung, als fragwürdig anzusehen, da es ihm ja nicht um gesprochene Sprache im Alltag, sondern um eine Literatur- und damit Schriftsprache neuen Typs ging.
Die Problematik der Verhaftung und späteren Hinrichtung des Dichters im Jahre 1938 wirft indes verschiedene Fragen darüber auf, inwieweit sich in der damaligen Aserbaidschanischen SSR ein Widerstand gegen die Russifizierung geregt haben mag. Daran schließt sich ein weiterer Punkt an, der den Charakter des damaligen stalinistischen Staatsaufbaus betrifft. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage, wie paranoid dieses Staatsgebilde wirklich war. Denn allein um eine Diskussion über den Einsatz der Muttersprache oder über folkloristische Elemente kann es sich wohl kaum handeln, wenn ein Dichter, der mit seiner Übersetzungsarbeit auch eine Art „ neuer Wertevermittlung“ betreibt, plötzlich zum Feind des Staates erklärt wird. Insoweit muss man wohl davon ausgehen, dass das stalinistische Regime seinerzeit jegliche Autarkie der Mitgliedsländer zu unterdrücken versuchte, ohne dabei tatsächlich darüber nachzudenken, ob dieses oder jenes Element einer bestimmten Tradition ungefährlich oder gar förderlich für den „Bau des Sozialismus in einem Land“ (Bezeichnung Stalins für seine Ausführung der Ideologie zwischen 1922 und 1953) hätte sein können. Überdies muss man auch den damaligen politisch Verantwortlichen Paranoia vorwerfen, wenn sie in der Dichtung Müşfiqs tatsächlich den Nationalismus erkennen wollten, dessen man ihn später beschuldigte. Dazu passt beispielsweise die Tatsache, dass Stalin selbst gegen sein eigenes Herkunftsland (Georgien) keinerlei Gnade walten ließ und jeglichen Bezug der Bevölkerung zu Folklore und Religion (vor allem letzterer), die beide zuvor als identitätsstiftend galten, zu unterbinden versuchte. Zudem sind die Themen, die Müşfiq in seinen Gedichten berührt, keinesfalls nationalistischer Natur. Sie berühren eher die mentale Seite der aserbaidschanischen Identität, die, wenngleich durch den schiitischen Islam geprägt, nicht allzu unterschiedlich von der „russischen Seele“ ist. Themen, wie z.B. „ die Heimat“, „die Mutter“ oder „die Schönheit der Natur“ kommen in beiden Kulturen gleichermaßen bis heute vor und erfreuen sich großer Beliebtheit bei Lesern und Hörern. Man kann also hieraus schließen, dass hinter der Dichtung von Mikayil Müșfiq in den Augen der Zensoren weit mehr gesteckt haben mag als bloße Heimatliebe. Denn wenn schon die Erwähnung des Volksinstruments „tar“ (einer sechssaitigen Kurzhalslaute) in einem Gedicht („Tar, oxu tar“- „Tar, singe Tar“) eine derartige Reaktion bei den damals verantwortlichen Behörden auslöste, konnte der innere Zusammenhalt des sowjetischen Staatsgebildes insgesamt noch nicht allzu gefestigt gewesen sein. Dies änderte sich freilich nach dem Zweiten Weltkriegs und erst recht nach dem Tode Stalins. Als ein Beispiel für die Wiedererstarkung nationaler Folklore nach 1945 ist etwa der Einsatz jener „tar“ bei öffentlichen Musikveranstaltungen oder in den Leitmedien zu nennen. Zieht man nun über das gesamte Leben und Werk von Mikayil Müșfiq Bilanz, so wird klar, dass er keinesfalls die Rolle eines typischen Dissidenten oder Aufrührers einnahm, dessen Dichtungen allein den Zweck eines Aufrufs zum Widerstand verfolgt hätten. Es war vielmehr seine eigene Wahrnehmung von Heimat und Tradition, die er mit den neuen Vorstellungen von Sozialismus und Fortschritt zu verbinden versuchte. Dies gelang ihm bis zu einem gewissen Grad auch, da er ja nicht von Anfang an unter den stalinistischen Repressionen zu leiden hatte, sondern diese Probleme erst zu einem späteren Zeitpunkt einsetzten. Gleichwohl sind die Gründe für seine Verhaftung aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar, da ja schon zu Lebzeiten des Dichters Werke veröffentlicht wurden, die einen ganz anderen Eindruck als den der Nonkonformität oder gar der Verweigerung machen mussten. In der Wahrnehmung des heutigen Aserbaidschan wird Mikayil Müșfiq als Dichter, Patriot und Märtyrer verehrt. Doch dieses Gedenken verschleiert (bewusst oder unbewusst) die Tatsache, dass er kein Gegner der sowjetischen Anschauungen, sondern, gerade zu Beginn der sowjetischen Zeit, ein Befürworter der neuen Progression war. Dies forderte jedoch nicht den Preis seiner Heimatliebe an sich. Der Dichter blieb seinem Land und dessen Traditionen weiterhin verbunden, die er (offenbar) nicht als mit den sozialistischen Werten im Widerspruch stehend empfand. Die politischen Akteure jener Zeit jedoch offensichtlich sahen in seiner Heimatverbundenheit eine unüberwindbare Hürde für ihre Pläne einer neuen Staatsordnung. Dabei kann man dieses Bild einer liebenswerten Heimat in seinem Fall sicherlich recht einfach umreißen: „Ein Ort, an dem Tradition, Fortschritt und Zusammenhalt der Generationen sich nicht gegenseitig ausschließen.“ Inwieweit der Dichter mit der heutigen Entwicklung seines Landes zufrieden wäre, kann sicher niemand genau beurteilen. Doch eines ist sicher: Jene Symbiose zwischen Tradition und Progress, die Mikayil Müșfiq zu seinen Lebzeiten einforderte, bewährt sich heute in seinem Land in den verschiedensten Bereichen des politischen und kulturellen Lebens. Für Aserbaidschan, seine Politik und seine Menschen ingesamt wird indessen die Herausforderung darin bestehen bleiben, über den Erhalt dieses Gleichgewichts stets aufmerksam zu wachen. Für diese Aufgabe sei allen Beteiligten in Zukunft viel Kraft und alles Gute gewünscht.
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