Ende der dunklen Geschäfte in Bergkarabach. Irans geopolitisches Debakel

von Admiral

Zweihundert Jahre lang betrachtete Iran den russischen Einfluss (zunächst Russisches Kaiserreich, danach die Sowjetunion) im Norden als Hauptbedrohung für seine Stabilität und territoriale Integrität. Vor und während des Kalten Krieges mussten die politischen Verantwortlichen ihre außenpolitischen Entscheidungen nach den Rahmenbedingungen der Konfrontation zwischen der Sowjetunion und dem Westen ausrichten. Der Untergang des Sowjetimperiums hatte unterschiedliche Folgen für die Sicherheitsinteressen Irans. In einer Situation, in der die Bedeutung regionaler und zwischenstaatlicher Konflikte dramatisch zunahm, gewann die Absicherung der staatlichen Grenzen die oberste Priorität. Acht von 15 neuen Staaten, die nach dem Zerfall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entstanden, teilen eine gemeinsame Geschichte (u.a. politische und kulturelle) mit dem Iran. Armenien (48 Kilometer), Aserbaidschan (611  Kilometer) und Turkmenistan (1205 Kilometer) haben gemeinsame Staatsgrenzen mit dem persischen Staat. Jede turbulente Entwicklung in diesen Ländern wirkt sich unmittelbar auf die Interessen Teherans aus.

Im Herbst 2020 kam es zu schwersten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan im Konfliktgebiet Bergkarabach seit 1994. Diese endeten am 10. November mit einem militärischen Sieg Aserbaidschans und der Unterzeichnung eines trilateralen Waffenstillstandsabkommens mit russischer Vermittlung. Im Lichte der Geschehnisse in unmittelbarer Nachbarschaft konnte Iran nicht in der Zuschauerrolle bleiben. Die Hauptvormarschrichtung der aserbaidschanischen Armee verlief während der Kriegszeiten entlang der Grenze zum Iran, was in Teheran große Sorgen aufkommen ließ, das ganze Ausmaß könne auf die bedeutende aserbaidschanische Minderheit im Nord-Osten des Landes überspringen und Unruhen verursachen. Mit über 20 Millionen sind Aserbaidschaner die größte ethnische Gemeinschaft im Iran.

Die Mehrzahl der Aserbaidschaner gehört wie Iraner zur schiitischen Ausrichtung des Islam. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Mulla-Regime würde sich im Bergkarabach-Konflikt aus Solidaritätsgründen auf die Seite Aserbaidschans schlagen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im persischen Gottesstaat wird immer wieder die Befürchtung geäußert, Baku wolle die Minderheitenkarte ausspielen und den Iran mit Hilfe der USA und Israel zerschlagen. Aus rein strategischen Überlegungen betreibt Teheran daher ein doppeltes Spiel, indem man einerseits enge Beziehungen zu Armenien pflegt, andererseits, wenn auch passiv, die territoriale Unverletzbarkeit Aserbaidschans unterstützt. Es ist anzumerken, dass der bis September 2020 vorherrschende Status-Quo für Teheran höchst zufriedenstellend war, denn dieser sicherte die Abhängigkeit Aserbaidschans vom Iran, Stichwort Autonome Republik Nachitschewan, die nur über iranisches Territorium erreichbar ist. Das am 10. November unterzeichnete Abkommen sieht nun die Errichtung einer Verbindungsstraße zwischen Nachitschewan und dem Mutterland Aserbaidschan vor, wodurch Iran erheblich an geostrategischer Bedeutung einbüßen könnte.

Die Haltung der Mullahs, ein Gegengewicht zum türkisch-aserbaidschanischen Einfluss zu schaffen, hat Armenien von Anbeginn in die Hände gespielt, wenn auch indirekt. An dieser Stelle ist die jahrhundertealte und eher latente Rivalität mit der Türkei hervorzuheben. Der iranische Staat ist stets bemüht, den türkischen Einfluss in der Region einzudämmen. Im Konflikt in Bergkarabach sah die iranische Führung lange Zeit die Gelegenheit, die Achillesferse der Türkei, nämlich die Feindschaft mit Armenien, auszunutzen und sich der türkisch-amerikanischen Politik in der Region entgegenzustellen. Doch mit dem Sieg Aserbaidschans im jüngsten Krieg haben sich die geopolitischen Gegebenheiten grundlegend gewandelt. In Teheran muss man fortan mit diesen Realitäten rechnen und die außenpolitischen Handlungen im Südkaukasus daran anpassen. Ein Teil der aserbaidschanisch-iranischen Staatsgrenze war von 1994 bis 2020 unter armenischer Besatzung. Da Baku diesen Grenzabschnitt erneut unter Kontrolle gebracht hat, ist eine neue Sicherheitsdynamik zwischen den beiden Ländern entstanden. Die gemäß der Vereinbarung vom 10. November 2020 in Bergkarabach stationierten russischen Friedenstruppen, die weniger als 100 km von der iranischen Grenze eingesetzt werden, dürften viele in Teheran nervös machen. Trotz guter zwischenstaatlicher Beziehungen begegnet man im Iran den Aktivitäten des Kreml im Südkaukasus mit Misstrauen. Man hat bereits damit begonnen, mehr militärische Anlagen entlang seiner Nordgrenzen zu konzentrieren. Fraglich ist nur, ob diese Maßnahmen vorübergehender Natur sind, oder aufgrund der neuen Sicherheitslage einen dauerhaft-verbindlichen Charakter tragen.

Für Armenien ist das iranische Territorium bisher die einzige Route, um die einseitige wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeit von Russland teilweise zu reduzieren. Die armenisch-iranische Staatsgrenze wird de facto vom Grenzdienst des russischen Inlandgeheimdienstes FSB überwacht.

Die offizielle Haltung und Aktionen des Mullah-Regimes während aktiver Kampfhandlungen ließ den seit Jahrzehnten bestehenden Argwohn in Aserbaidschan gegen den Iran noch größer werden. So gab es mehrere wahrhaftige Medienberichte über den Transport von kurdischen PKK-Terroristen aus Syrien nach Bergkarabach, um dort auf der Seite der Armenier gegen Aserbaidschan zu kämpfen. Auf ihrem Weg zum Einsatzgebiet sollen diese bewaffneten Gruppierungen das iranische Gebiet passiert haben. Die Nachrichten dieser Art sorgten für große Empörung in der aserbaidschanischen Öffentlichkeit. Für Schlagzeilen in den Kriegstagen und Wochen sorgten auch die in sozialen Medien verbreiteten Foto- und Videobeweise über vermutete Waffenlieferungen über den iranischen Grenzübergang Norduz nach Armenien. Auch wurde gemeldet, Iran habe seinen Luftraum für mögliche Lieferungen an Armenien bereitgestellt. In allen Fällen dementierten zwar die iranischen Offiziellen etwaige Meldungen, doch das ohnehin stark beschädigte Ansehen Teherans bekam dadurch ernsthafte Risse.

Iran und Aserbaidschan teilen eine gemeinsame Grenze, die sich über 600 Kilometer lang erstreckt. Bedingt durch die armenische Besatzung waren davon etwa 132 Kilometer zwischen 1994-2020 der Kontrolle Bakus entzogen. Der geschichtsumwobene Fluss Arax (Aras) bildet dabei den wichtigsten Grenzübergangspunkt. In den vergangenen 28 Jahren wurde dieser Fluss als durchlässige Grenze für illegalen Drogenhandel genutzt. Von der südarmenischen Stadt Meghri im Westen bis zum aserbaidschanischen Horadiz im Osten (die noch bis vor wenigen Monaten von Armenien kontrolliert wurde) dehnte sich ein großes Gebiet aus, in dem Drogendealer ungehindert Ihre florierenden Geschäfte betreiben konnten. Sie nutzten dabei die Abgeschiedenheit der Gegend aus, wobei das iranische Territorium eine beliebte Schmuggelroute für Drogenlieferungen aus Afghanistan darstellte. Die iranischen Lastwagen fuhren ungehindert über die Grenze nach Bergkarabach, vollgepackt mit afghanischem Heroin und mit freundlicher Genehmigung der iranischen Revolutionsgarde. Geschützt wurde dieser Transportweg von der iranischen Quds-Einheit, einer Elitetruppe der Revolutionsgarden. Das besetzte Bergkarabach galt als Hintertür. Von hier aus gingen die Drogen über Armenien weiter nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Österreich, Tschechien, Polen, Deutschland und in andere Länder Europas. Die Behörden der separatistischen „Republik Bergkarabach“ unternahmen nichts, um das schmutzige Geschäft zu bekämpfen. Im Gegenteil hatten diese selber einen lukrativen Anteil daran.

Das Territorium von Bergkarabach wurde zudem mehr als zwei Jahrzehnte als Rekrutierungszentrum für Sexhändler ausgenutzt, die die endemische Armut der Bevölkerung ausnutzten. Dabei wurden junge Mädchen gegen Bezahlung von ihren Familien getrennt und mit Scheinbeschäftigungsprogrammen getäuscht. Sie wurden über die Grenze gebracht, um in zwielichtigen Sex-Clubs von Eriwan zu arbeiten. Von dort aus gingen Sie nach Westeuropa, wo sie gezwungen wurden, in Bordellen von Madrid, London oder Berlin tätig zu werden.

Der Ausgang des zweiten Karabachkrieges stellt den Iran vor neuen geopolitischen Herausforderungen, die den Handlungsspielraum des Landes wesentlich einschränken könnte. Man kämpft aktuell an mehreren Fronten: Die Wirtschaft stagniert, es kommt häufig zu innenpolitischen Unruhen und landesweit wütet die COVID-19-Pandemie. Daran schließen sich die nicht enden wollenden und kostspieligen Interventionen in den Ländern wie Syrien und Irak an, wo man eigene Interessen durchzusetzen versucht. Es bleibt abzuwarten, wie der Gottesstaat mit der Etablierung neuer Kräfteverhältnisse in seiner nördlichen Nachbarschaft umgehen wird. Fest steht jedoch: Iran wird nach der Stationierung russischer Truppen in Bergkarabach und der Stärkung der Machtpositionen Ankaras seine geostrategischen Prioritäten neu definieren müssen, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. 

  1. Narcokarabakh: The Islamic Republik, https://narcokarabakh.net/en/stories/ch2