Auswirkungen des verlorenen Krieges auf Wirtschaft Armeniens: Hoffnung stirbt zuletzt

Deutsche Welle

von Christian Fischer

In der Konfliktregion Berg-Karabach hält seit dem 10. November 2020 die Waffenruhe. Nach Angaben der armenischen Regierung sind etwa 90.000 Armenier während aktiver Kampfhandlungen aus Berg-Karabach nach Armenien geflohen. Aserbaidschan hält diese Zahl für übertrieben und geht von höchstens 40.000 Geflüchteten aus. Die zum Schutze der Karabach-Armenier in der Region stationierten Friedenstruppen Russlands sind unmittelbar am Rückkehrprozess der Geflohenen in ihre Heimatorte beteiligt. In der Provinzhauptstadt Stepanakert alias Khankendi scheint das Leben wieder zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Die Menschen und Autos füllen die Straßen, die Bewohner stellen ihre Geschäfte wieder auf die Beine. Das humanitäre Zentrum hilft bei der Rückkehr von Flüchtlingen und dem Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur der Region. Das russische Verteidigungsministerium ist dabei zuständig für die organisatorischen Angelegenheiten. In Begleitung der russischen Friedenstruppen kehrten bisher mehr als 50.000 Tausend Armenier nach Berg-Karabach zurück. Kürzlich wurden die Ergebnisse der von den Vereinten Nationen durchgeführten Untersuchungen unter den Armeniern veröffentlicht, die Karabach während des Krieges verlassen hatten. Gemäß den erhaltenen Daten würden 85 Prozent der armenischen Familien, die sich in einer “ähnlichen Situation wie Flüchtlinge” befinden, nicht in ihre Wohnorte in Karabach zurückkehren. Im Allgemeinen kehrten seit Ende Januar etwas mehr als 20.000 Menschen zurück.

Militärbereich

Der Krieg beeinflusste die armenische Wirtschaft in verschiedenen Bereichen. Zuallererst musste der militärische Sektor Armeniens erhebliche Verluste hinnehmen. Nach ersten Schätzungen belaufen sich die Minimalkosten der armenischen Militärausrüstung, die während des Krieges von aserbaidschanischen Streitkräften zerstört oder als Trophäe erbeutet wurde, auf 3,8 Milliarden US-Dollar. In den letzten zehn Jahren verdoppelten sich die jährlichen Militärausgaben Armeniens und erreichten 716 Millionen US-Dollar, was für ein kleines Land wie Armenien mit seinem winzigen Staatsbudget eine ziemlich große Summe ist. Daher ist der Anteil der Militärausgaben Armeniens am BIP weltweit einer der höchsten. Dieser Indikator erreichte im Jahr 2019 fast 5%, wodurch das Land Russland und selbst die USA übertraf. Doch trotz enormer Militärausgaben erlitt Armenien im Herbstkrieg 2020 eine schwere Niederlage verbunden mit erheblichen finanziellen Schäden. Die Kosten für die militärische Ausrüstung während des Krieges mit Aserbaidschan machen 77% der bisher getätigten Aufwendungen aus. Folglich verlor Armeniens Armee ihre militärische Schlagkraft. Eine Rückkehr zur „alten Stärke“ wird viele Jahre in Anspruch nehmen.

Landwirtschaft

Die Landwirtschaft der separatistischen Formation deckte in den Besatzungsjahren nicht nur den Gesamtbedarf der lokalen Bevölkerung ab, sondern versorgte auch das „Mutterland“ Armenien mit Nahrungsmitteln. Berg-Karabach hatte vor dem Krieg 132.000 Hektar Aussaatfläche, von denen 100.000 Hektar genutzt wurden. Aserbaidschan brachte laut Schätzungen des Landwirtschaftsministeriums des separatistischen Regimes rund 70.000 Hektar-Fläche unter seine Kontrolle. Von den 7.000 Hektar Gärten, von denen es besonders viele im Becken des Flusses Aras gibt, blieben nur 2.000 Hektar im armenisch kontrollierten Gebiet. Berg-Karabach und die umliegenden Räume sind reich an natürlichen Vorkommen wie Gold, Kupfer und andere wertvolle Metalle. Jahrzehntelang dienten die Einnahmen aus dem Bergbau für die de-facto „Republik Berg-Karabach“ als notwendige ökonomische Rückendeckung. Der Statistikbehörde der armenischen Separatisten zufolge stammten 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Berg-Karabach im Jahr 2019 aus der Bergbauindustrie, was sie zur bedeutendsten Einnahmequelle machte. Während des Krieges gingen dem de-facto Regime die Kontrolle über die profitablen Minenfelder abhanden. Auch im Bereich der Viehzucht gingen nutzbare Weideflächen in Besitz der Aserbaidschaner über, jedoch hat dieser Sektor keine ernstzunehmenden Auswirkungen auf die Gesamtbilanz (5 bis 7 Prozent) der Verluste.

Deutlich betrübt ist die Stimmung vor allem in den Reihen der einflussreichen armenischen Diaspora im Ausland, die einen großen Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse in Armenien und in der Karabach-Frage nimmt. Laut Alexan Keoshkerian, einem Mitglied des Weltvorstandes einer der ältesten armenischen Parteien „Huntschak“, gibt es in der Diaspora einen Konsens darüber, der Kampf in Karabach für Armenien sei verloren. “Und wenn es vor dem Krieg eine Tendenz gab, dass Armenier aus dem Nahen Osten, insbesondere aus dem Libanon, nach Armenien zurückkehren, so denken jetzt sogar die libanesischen Armenier, die sich in den letzten Jahren und Monaten in Armenien und Bergkarabach ansiedelten, wieder darüber nach, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Libanon zurückzukehren.“, gibt Keoshkerian zu.

Nach dem Herbstkrieg 2020 erhielt Aserbaidschan gemäß dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen die Region Latschin nach 28-jähriger Besatzung wieder zurück. Der 5 Kilometer breite Korridor, der von der armenisch-aserbaidschanischen Grenze nach Stepanakert/Khankendi führt, wird für die nächsten Jahre unter russischer Ägide als Pufferzone fungieren. Entlang der gesamten Grenzlinie zwischen den gegnerischen Seiten wurden Beobachtungsposten eingerichtet. Acht Modulsiedlungen wurden gebaut, um fast zweitausend Soldaten und Offiziere unterzubringen. Hier ist alles Notwendige vorhanden: Wohnräume, Kantinen, Duschen, Bade- und Waschmöglichkeiten. Russische Militärs postieren zudem an der Hauptstraße von Bergkarabach und damit am einzigen befahrbaren Zugang zur Stadt Schuscha, die von Aserbaidschan kontrolliert wird.

Die Außenfinanzen sind eine zentrale Schwachstelle Armeniens, mit einer hohen Abhängigkeit von Rohstoffexporten (41% der aktuellen Außenhandelseinnahmen 2020), die die Anfälligkeit für Preisschwankungen bei Kupfer und Edelmetallen erhöht. Hinzu kommen noch relativ schwache Zuflüsse von ausländischen Direktinvestitionen (ADI). Die Nettoauslandsverschuldung (NXD) betrug Ende 2020 55,1% des BIP (Median “B” von 32,3%) und wird den Prognosen zufolge bis Ende 2022 auf 62,2% steigen. Das allgemeine Bekenntnis der Behörden zur Wechselkursflexibilität führte dazu, dass die Nationalwährung „Dram“ im Jahr 2020 um 9% an Wert verlor. Die armenische Zentralbank hält an ihrem Interventionsprinzip fest, wenn es darum geht, ungeordnete Anpassungen an den Finanzmärkten zu verhindern. Im Jahr 2020 tätigte sie Netto-Devisenverkäufe in Höhe von 147 Mio. USD (2019: Nettokäufe von 566 Mio. USD). Die weitgehende Einhaltung des Wechselkursrahmens unter der SBA des IWF untermauert den Zugang zu internationalen Finanzinstitutionen (IFIs) und externer kommerzieller Finanzierung. Der zweite Karabach-Krieg hat die armenische Wirtschaft hart getroffen. Die Abhängigkeit von der Auslandsverschuldung könnte nach dem Krieg rasant steigen. Verlust der besetzten Gebiete in Karabach zieht die Energie- und Nahrungsmittelknappheit mit sich, was zu Preissteigerungen und zur wachsenden sozialen Unzufriedenheit führen könnte. Die reduzierten finanziellen Ressourcen und sich verschlechternde makroökonomische Indikatoren setzen den wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven  massiv zu. Die ökonomischen Schäden des Krieges werden langfristig schwerwiegende Auswirkungen für Armenien haben und seine finanzielle Sicherheit noch mehr gefährden. Die Beteiligung an regionaler Infrastrukturprojekten ist vermutlich der einzige Weg für Armenien, aus der wirtschaftlichen Gemengelage herauszukommen. Darüber hinaus könnten regionale Transportvorhaben eine große Rolle für die langfristige Entwicklung sorgen und der Region mehr Stabilität und Sicherheit bescheren. Der Wiederaufbau der Verkehrsinfrastruktur in Karabach könnte sicherlich zu einem höheren Wirtschaftswachstum in Armenien und Aserbaidschan beitragen und neue gemeinsame Kooperationsinitiativen in der Zukunft ermöglichen.